Kritische ESG-Debatte als Teil der Marktreifung
Von Torsten Hähn*)
Bei vielen Trends, die mit großen Erwartungen verknüpft sind, stellt sich ab einem gewissen Punkt eine Phase der Ernüchterung ein. Für das Thema ESG war dies 2022 der Fall. Der Diskurs hat dabei unter-schiedliche fachliche Tiefe. Die Kontroverse um die (zu) ESG-konforme Verwaltung von öffentlichen Geldern einiger republikanisch regierter US-Bundesstaaten ist laut-stark, aber wohl vor allem parteiideologisch motiviert.
Dehnbarer Begriff
Andere Debatten sind auf die geopolitische Zeitenwende zurückzuführen. So ist nach dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine die Frage laut geworden, ob die Rüstungsindustrie nicht doch Beiträge zu einer nachhaltigeren Welt liefert, da mit den Produkten Frieden und Freiheit verteidigt werden. Bislang sind Waffen als kritische Güter bei vielen Nachhaltigkeitsfiltern ausgeschlossen. Ähnlich verhält es sich mit der Energiepolitik. Schon vor dem Krieg in der Ukraine hat sich die EU auf den Weg gemacht, die Gewinnung von Energie aus Atomkraft sowie dem fossilen Brennstoff Gas als nachhaltige Aktivitäten im Rahmen der Taxonomie einzustufen. Auch dies ist kritisch betrachtet worden. Bei beiden Beispielen steht der Vorwurf im Raum, Nachhaltigkeit sei immer dann dehnbar, wenn es politisch opportun sei.
Den bekannten Kritikpunkten – die ESG-Datenlage sei nicht hinreichend, das Fehlen einheitlicher Definitionen setze die Interpretation der Daten gewisser Willkür aus und entsprechend zeigten sich ESG-Beurteilungen mit einer breiten Streuung – wurden also neue Aspekte hinzugefügt. Wenngleich die Rolle der Finanzbranche bei der Steuerung von ökologischen, sozialen und Governance-Aspekten in der Regel nicht in Frage gestellt wird, sehen einige Analysen die Finanzindustrie nur als ein Standbein in der Bekämpfung des Klimawandels. Mit diesem Standbein könne sich dann aber die Politik „davor drücken“, ihren Wählern einen viel effektiveren Hebel zuzumuten – nämlich eine striktere CO2-Besteuerung.
Passgenaue Ausrichtung
Andere Kommentare führen aus, dass das Label ESG in seiner Kombination überfrachtet sei. Die Einzelziele seien nicht deckungsgleich. So ist die Schließung einer Kohlemine zwar ökologisch zu befürworten, aber sozial ist dies für die betroffene Region schwierig. Daher müssten E, S und G viel passgenauer für einzelne Investorenausrichtungen auseinandergezogen werden. So gäbe es dann eher ökologische Anlagemöglichkeiten oder Investitionsoptionen, die nur auf soziale Aspekte abzielen. Damit könne vielleicht auch die Gefahr von unklaren oder übermäßigen Versprechen, was eine nachhaltige Geldanlage denn alles zu leisten imstande sei, minimiert werden.
Die genannten Punkte muss man nicht teilen. Aber zur Reifung eines Marktsegmentes gehört eine kontroverse Auseinandersetzung. Diese trägt im Idealfall zu Korrekturen bei und kann Angriffsflächen reduzieren. Die Erkenntnis, dass allein die Geldanlage nach Nachhaltigkeitskriterien nicht alle Probleme der Welt lösen wird, ist 2022 vor allem medial aufgearbeitet worden. Diese Aufarbeitung kann zu dem notwendigen Realismus beitragen, der dann die Weiterentwicklung des Marktes unterstützt.
Bei nachhaltigen Bonds ist die geforderte Präzisierung vielfach schon Realität. Da das nachhaltige Etikett der Anleihe an die Finanzierung grüner oder sozialer Projekte geknüpft ist und diese Projekte im Bond-Framework offenzulegen sind, können Anleger hier bereits Präferenzen setzen. Diese Transparenz mag ein Grund dafür sein, dass die skizzierte ESG-Debatte den Bondmarkt bislang nur am Rand gestreift hat.
Mehr Ambition gefragt
Dennoch muss sich auch der nachhaltige Bondmarkt laufenden Diskussionen stellen und Schlüsse daraus ziehen. Ein solcher Schluss wäre, dass der Markt für Sustainability-Linked Bonds (SLBs) noch stärkere Bemühungen unternehmen sollte, nicht in eine Debatte über Greenwashing hineingezogen zu werden. Dieses junge Segment entwickelt sich noch, und Wachstumsschmerzen bleiben nicht aus. Zuletzt fanden sich aber Einschätzungen, dass die mit den Bondkonditionen verknüpften Nachhaltigkeitsziele teilweise zu wenig ambitioniert seien.
Ehrgeizigere Ziele, zu denen sich die Emittenten verpflichten und deren Erreichung einen Unterschied zu einem unangestrengten „business as usual“ darstellt, sind eine zentrale Voraussetzung für die Glaubwürdigkeit dieses Marktes. Flankierende Maßnahmen wie Step-up-Kupons, die das Verfehlen dieser Ziele spürbarer und früher ahnden, als dies bislang oft der Fall ist, könnten ebenfalls mehr Konsequenz signalisieren.
Unabhängig von kontroversen Debatten hat sich der Euro-Markt für ESG-Papiere 2022 solide präsentiert. Trotz der Querschüsse durch Geopolitik, Inflation und steigende Renditen wurden in den ersten elf Monaten nachhaltige Bonds im Volumen von 345 Mrd. Euro emittiert. Im Markt für Euro-denominierte Papiere wird 2022 so nach dem Rekordjahr 2021 (400 Mrd. Euro an Emissionen) das zweitstärkste Jahr werden.
Das 2022 am häufigsten genutzte Instrument war der klassische Green Bond. Rund zwei Drittel der nachhaltigen Anleihen wurden in dieser Form begeben. Bei den Social Bonds sank der Anteil hingegen von 28% auf 16%. Wesentlich hierzu hat das Emissionsverhalten der EU beigetragen. Brüssel hat 2021 noch deutlich mehr Social Bonds begeben und fokussiert sich aktuell eher auf Green Bonds im Rahmen des Programms Next Generation EU. Etwas enttäuschend präsentierten sich die SLBs, deren Anteil von 10,5% im vergangenen Jahr auf gut 7% schrumpfte. Hieran mag die obige Debatte einen Anteil haben, genau determinieren lässt sich dies aber nicht.
Die wichtigste nachhaltige Asset-klasse waren erneut die Unternehmensanleihen mit einem Anteil von 28% an den Gesamtemissionen. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass dieser Wert mittlerweile einen Anteil von rund 35% aller begebenen Corporate Bonds reflektiert. Anders ausgedrückt war 2022 jede dritte neue Unternehmensanleihe ein nachhaltiges Papier. Bei den Bankanleihen liegt dieser Wert im Übrigen bei 25% – ebenfalls ein beachtlicher Wert. Mit Blick auf die Covered Bonds beträgt die Quote nachhaltiger Euro-Emissionen rund 10%, was ein solides Ergebnis in einem emissionsstarken Jahr darstellt.
Neue Impulse
2022 ist der Markt für nachhaltige Euro-Bonds nach dem Rekordjahr 2021 absolut nicht noch einmal gewachsen. Innerhalb der einzelnen Assetklassen hat sich das Format der nachhaltigen Anleihe aber weiter etabliert. Die kritischer gewordene Diskussion um ESG-Themen sollte nicht nur negativ gesehen werden, sondern Impulse für mehr Konsequenz am ESG-Bondmarkt liefern. Die Aufgaben, die mit nachhaltigen Anleihen zu bewältigen sind, nehmen sich jedenfalls drängender denn je aus.
*) Torsten Hähn ist Analyst im Rentenresearch der DZ Bank.