Aktienmärkte

Lateinamerika auch 2022 instabil

Lateinamerika wird auch 2022 instabil bleiben. Neue Virusvarianten und US-Zinserhöhungen könnten die Erholung gefährden. Allerdings sind die schlechten Aussichten an den Aktienmärkten eingepreist.

Lateinamerika auch 2022 instabil

Von Andreas Fink, Buenos Aires

Südamerika brauchte nach dem Verlust von mehr als einer Million Menschenleben länger als alle anderen Weltregionen, um sich vom Coronaschock zu erholen. Und auch 2022 verheißt wenig Gutes. Denn die Fi­nanzminister der Region werden kein deutliches Wachstum mehr präsentieren können wie 2021, als alle Staaten kräftig zulegen konnten – al­lerdings nur im Vergleich zum de­saströsen 2020. In diesem Jahr werden die Regierenden Strategien finden müssen, um einer Stagflation zu entgehen und gleichzeitig die erheblichen sozialen Folgen der Lockdowns und Quarantänen abzufedern.

Spielräume ausgereizt

Die Finanzminister stehen am Ende ihres fiskalischen Spielraums und können keine neuen Schulden mehr aufnehmen, um Omikron oder möglichen neuen Varianten entgegenzutreten. Auch wenn der Impffortschritt in den größeren Ländern inzwischen weitreichend ist und neue Massensterben nicht mehr befürchtet werden, sind wirtschaftliche Rückschläge keineswegs ausgeschlossen. Vor diesem komplizierten Hintergrund müssen die Regierungen der Wut und Frustration ihrer Bürger gerecht werden. Viele Lateinamerikaner haben erhebliche Einkommensverluste erlitten und sind in die Armut gerutscht, nachdem die Staaten ihre Nothilfe-Programme von 2020 nicht fortsetzen konnten.

Mehrere Wahlen im Vorjahr stärkten oppositionelle Kräfte. Nun sind die meisten Parlamente extrem zersplittert, nur noch wenige Regierungen können auf eigene Mehrheiten bauen. Dieser Trend könnte sich 2022 fortsetzen: Kolumbien und Brasilien wählen neue Präsidenten und Parlamente. Umfragen sehen in beiden bislang konservativ regierten Ländern sozialistische Kandidaten in Führung. Dabei ist der kolumbianische Senator Gustavo Petro deutlich weiter links orientiert als Brasiliens Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, der derzeit mit mehr als 20 Prozentpunkte Vorsprung vor Amtsinhaber Jair Bolsonaro liegt. Allerdings hat dieser angekündigt, das Wahlergebnis nicht zu akzeptieren, und indirekt bereits mit einem möglichen Einschreiten des Militärs gedroht.

Zusätzlich belasten externe Einflüsse: neben möglichen neuen Virusvarianten vor allem die Rohstoffpreise. Einerseits dürfte das Nachlassen des Nachfragebooms in China die Preise für Kupfer- und andere Erze sinken lassen und so die Staatseinnahmen schmälern. Gleichzeitig könnten die Lebensmittelpreise, die 2021 deutlich stiegen und die, neben den Energiekosten, maßgeblich einen Inflationsschub auslösten, weiter zulegen, denn vor allem im Süden des Kontinents herrscht eine anhaltende Dürre. Die Inflation dürfte auch 2022 die Region prägen. Das lange stabile Brasilien verzeichnete 2021 über 10% Teuerung. Die Zentralbank hat im Laufe des Jahres den Leitzins Selic in sieben Schritten von 2 auf 9,25% angehoben. Und für die nächsten Monate werden weitere Zinsschritte erwartet.

Die seit 2019 anhaltende Dürre in Brasilien, Bolivien, Paraguay und Argentinien könnte deutliche fiskalische Spuren hinterlassen. In Argentinien machen die Ausfuhrzölle auf Agrarprodukte immerhin 11% sämtlicher Staatseinnahmen aus. Argentinien verzeichnet noch einen weiteren Risikofaktor: Das Land muss sich dringend mit dem IWF über eine Umschuldung des Rekord-Stand-by-Kredits einigen, der dem Land 2018 57 Mrd. Dollar zusprach, wovon etwa 45 Mrd. Dollar ausgezahlt wurden. 2022 müsste das Land gut 19 Mrd. Dollar an den Fonds zurücküberweisen. 2023 ist eine ähnlich hohe Summe fällig. Aber das Land hat dieses Geld nicht, sämtliche flüssigen Reserven sind nach einem teuren Wahlkampf Ende 2021 aufgebraucht. Ende März ist die erste 3-Mrd.-Dollar-Tranche an den IWF fällig, und dazu kommt eine 2-Mrd.-Dollar-Forderung des Pariser Clubs, die nur umgeschuldet werden kann, wenn Argentinien sich zuvor mit dem IWF einigt. Sollten die Verhandlungen scheitern, drohen zusätzliche Turbulenzen.

Andenländer belastet

An den Finanzmärkten hat die soziale, gesundheitliche, wirtschaftliche und politische Volatilität bereits deutliche Spuren hinterlassen, so erlebten die Börsen in den Andenländern Kolumbien, Peru und Chile 2021 massive Einbrüche. Diese waren zumeist Reaktionen auf politische Ereignisse wie die monatelangen Unruhen in kolumbianischen Städten und die Wahl des linken und inkompetenten Dorfschullehrers Pedro Castillo in Peru. Besonders markant war der Einbruch in Chile nach der Wahl des jungen Linken Gabriel Boric zum Präsidenten. Doch seit der Wahl im Dezember erlebten die Kurse in Santiago einen steilen Aufstieg, nachdem Boric versicherte, die von ihm anvisierte gerechtere Verteilung des chilenischen Wohlstandes nicht auf Kosten des Fiskus angehen zu wollen. Boric wird am 11. März seine Gratwanderung antreten. Er braucht dafür den Rückhalt seiner kommunistischen Koalitionspartner, muss aber auch Teile der konservativen Opposition überzeugen. Zudem dürfte der in der zweiten Jahreshälfte erwartete Entwurf einer neuen Verfassung die Kurse beeinflussen. Sollte der mehrheitlich links besetzte Verfassungskonvent radikale Umbrüche beschließen, könnte das politische Umtriebe und die Flucht ausländischer Investoren auslösen. Deren Verhalten dürfte auch vom Vorgehen der US-Notenbank­ abhängen. Sollte die Fed wie erwartet 2022 den Leitzins anheben, werden sämtliche Schwellenländerbörsen Abflüsse erleben, allen voran in Lateinamerika.

Am brasilianischen Aktienmarkt haben die Risikofaktoren bereits 2021 die Kurse gedrückt. Nach einem Allzeithoch im Juni mit 130000 Punkten setzte eine Baisse ein, die den Bovespa Anfang Dezember hart an die 100000er Marke brachte. Viele Beobachter glauben, dass der Tiefststand erreicht sein könnte, und sagen Gewinne für 2022 voraus. Das Wirtschaftsblatt „Valor“ befragte kürzlich 19 Banken und Beratungsfirmen nach deren Szenarien für 2022 und erhielt optimistische Antworten. Die prognostizierten Zugewinne reichen von 6,8% bis zu 31,7%. Die Bank BTG Pactual etwa glaubt, dass die Zentralbank langfristig die Inflation wieder unter Kontrolle bringen kann und die Zinssätze für Kredite mit längerer Laufzeit sich allmählich wieder im 4-%-Bereich einpendeln werden. Ihre Experten erwarten den Bovespa zum Jahresende bei 132000.

Auch in anderen Ländern könnten Gewinne winken. Eine Einigung mit dem IWF bis März dürfte argentinischen Aktien und Staatsanleihen Auftrieb geben. Eine Übereinkunft zwischen dem konservativen Lager und der starken Mitte könnte in Kolumbien im Mai eine linke Machtübernahme ausbremsen. Und Brasiliens Militärs könnten die Kurse beflügeln, wenn sie eindeutig erklärten, nicht für Abenteuer jenseits der Verfassungsgrenzen bereitzustehen.

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