Linde überzeugt mit Robustheit
Von Joachim Herr, München
Der Aktienkurs der Linde plc bricht nahezu stetig einen Höhenrekord nach dem anderen. Anfang Mai erreichte er mit 248,35 Euro seinen bisher höchsten Stand. Seit der Fusion der Linde AG mit dem US-amerikanischen Konkurrenten Praxair im Herbst 2018 ist der Börsenwert des Industriegasekonzerns um rund 70% gestiegen. Im März 2020 hatte der Coronaschock zwar auch Linde getroffen, und der Kurs stürzte auf 140 Euro in die Tiefe. Seitdem hat er sich aber mehr als verdoppelt und stieg allein seit Beginn dieses Jahres um etwa 15%. Mit einer Marktkapitalisierung von etwa 125 Mrd. Euro wird das amerikanisch-deutsche Unternehmen, das auch an der New Yorker Börse notiert ist, im Dax nur von SAP übertroffen und rangelt bisweilen mit Siemens um den zweiten Platz. Zeitweise lag in diesem Frühjahr Siemens in Führung, doch seit einiger Zeit hat Linde die Nase wieder ein ganzes Stück vorn. Siemens kommt aktuell auf rund 108 Mrd. Euro.
Für das gute Abschneiden von Linde in der Gewinn-und-Verlust-Rechnung und an der Börse gibt es eine Reihe von Gründen: Zum einen erwies sich das Geschäftsmodell von Linde auch in den dunkelsten Monaten der Coronakrise als recht robust. Zweitens ermöglicht die starke Marktstellung als Weltmarktführer in einem Oligopol mit nur drei echten globalen Anbietern – die anderen beiden sind Air Liquide (Frankreich) und Air Products (USA) – stetige Preiserhöhungen. Drittens nutzt das Unternehmen Synergien aus dem Zusammenschluss der einstigen Wettbewerber Linde AG und Praxair, steigert damit kontinuierlich den Gewinn je Aktie – meistens stärker als erwartet – und kann so regelmäßig die Prognose erhöhen. Damit steigt viertens die Dividende, die zusammen mit großen Aktienrückkaufprogrammen die Aktionäre bei Laune hält. Als fünfter Punkt kommt das Thema Wasserstoff hinzu, das der Linde-Aktie eine zusätzliche Portion Fantasie und Wachstumschancen gibt.
Kaum abhängig von Zyklen
Zuletzt hatte Linde Anfang Mai mit den Zahlen für das erste Quartal dieses Jahres der Aktie neuen Schwung gegeben. Die Analysten von J.P. Morgan erhöhten danach das Kursziel von 296 auf 350 Dollar und empfehlen weiterhin ein Übergewichten des Titels im Portfolio. Die Begründung der Branchenexperten: Ein Preismuster für Industriegase, mit dem Linde weitgehend unabhängig sei von den Bedingungen im aktuellen Geschäftszyklus, führe zu einem strukturell höheren Gewinnwachstum und einer höheren Bewertung.
In dieses Jahr startete das Unternehmen mit einem Rekordergebnis: Ein bereinigter Gewinn von 2,49 Dollar je Aktie bedeutete den bisher höchsten Wert in einem Quartal. Daraufhin erhöhte der Vorstand das Ziel für das gesamte Jahr auf 9,60 bis 9,80 Dollar je Aktie. Verglichen mit dem Vorjahreswert wären das bestenfalls 19% mehr. Auch der untere Wert von 17% überträfe klar den Anstieg um 12% im vergangenen Jahr.
In der stattlichen Zunahme dürften sich nach Ansicht der Analysten der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) außer dem widerstandsfähigen Geschäftsmodell „die kontinuierlichen Effizienzsteigerungsmaßnahmen positiv bemerkbar machen“. Das vom amerikanischen Management geprägte Trimmen auf Rendite wurde von Praxair auf die Linde plc übertragen: In einer Vielzahl von Projekten wird ständig daran gearbeitet, effizienter und profitabler zu werden. Das gehört für die Amerikaner längst zum Konzernalltag.
Auch mit Blick in die Zukunft über dieses Jahr hinaus verbreitet der Vorstand Optimismus. Linde habe das Potenzial, den Gewinn je Aktie weiterhin um mehr als 10% im Jahr zu steigern, sagte vor kurzem Chief Operating Officer (COO) Sanjiv Lamba in einer Analystenkonferenz. In seiner Präsentation verwies er darauf, dass der Konzern seit der Fusion vor drei Jahren wesentliche Finanzkennzahlen stärker gesteigert habe als die Konkurrenz: Das galt sowohl für das Ergebnis je Aktie und die operative Rendite als auch für die Rendite auf das eingesetzte Kapital. Hinzu kommt, dass sich der operative Cash-flow verglichen mit dem Wert vor zwei Jahren mehr als verdoppelt hat.☺
Nachfolge offenbar geklärt
Führungsfragen geben Aktionären von Linde ebenfalls keinen Anlass, beunruhigt zu sein. COO Lamba ersetzte in der Analystenkonferenz zum ersten Quartal Chief Executive Officer (CEO) Steve Angel. Einiges, vor allem das seit Jahresbeginn vergrößerte Aufgabengebiet, deutet darauf hin, dass Lamba, früher Vorstand der Linde AG, voraussichtlich im kommenden Jahr Angels Nachfolger wird. Der bisherige CEO dürfte dann den Posten des Verwaltungsratsvorsitzenden von Wolfgang Reitzle übernehmen, dem ehemaligen Vorstands- und späteren Aufsichtsratsvorsitzenden der Linde AG.
Dass Linde stark amerikanisch geprägt ist, zeigt sich außer im kontinuierlichen Arbeiten an einer höheren Effizienz auch in der Bedeutung der Gesamtrendite für die Aktionäre. Die Analysten der LBBW bewerten dies als „aktionärsfreundliche Ausschüttungspolitik mit Aktienrückkäufen und Dividendensteigerungen“. Allerdings sehen sie dies auch als Schwäche, da diese Strategie im Konflikt mit einem starken Rating steht, das für Linde hohe Priorität habe. Zudem limitierten Investitionen den Spielraum für einen schnellen Abbau der Schulden. Zum Ende des ersten Quartals wies Linde eine Nettoverschuldung von 11,65 Mrd. Dollar aus, etwa 1,2 Mrd. Dollar weniger als ein Jahr zuvor. Die Dividende, die quartalsweise gezahlt wird, stieg wie 2020 um ein Zehntel. Das neue Aktienrückkaufprogramm, das bis Juli 2023 läuft, hat ein Volumen von 5 Mrd. Dollar. Im Februar war das zwei Jahre zuvor gestartete Programm im Umfang von 6 Mrd. Dollar zu Ende gegangen.
Saubere Energie
Unterstützung gibt dem Aktienkurs zudem der Wandel zu sauberer Energie. Zum einen besitzt Linde Technologien, um Kohlendioxidemissionen von Kunden zu reduzieren, zum anderen ist das Unternehmen seit Jahrzehnten im Geschäft mit Wasserstoff aktiv und hat nach eigenen Angaben das weltweit dichteste Vertriebsnetz für dieses Gas. Das Management präsentiert sich deshalb selbstbewusst und zuversichtlich, von wachsenden Chancen mit Wasserstoff kräftig zu profitieren.