Türkei

Nach dem Lira-Schock

Als Reaktion auf eine Zinserhöhung hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan vor anderthalb Wochen den Gouverneur der Zentralbank, Naci Agbal, entlassen. Die Lira reagierte in den ersten Handelsstunden danach mit heftiger Abwertung. In den...

Nach dem Lira-Schock

Von Ulrich Leuchtmann*)

Als Reaktion auf eine Zinserhöhung hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan vor anderthalb Wochen den Gouverneur der Zentralbank, Naci Agbal, entlassen. Die Lira reagierte in den ersten Handelsstunden danach mit heftiger Abwertung. In den letzten Tagen hat allerdings eine gewisse Beruhigung eingesetzt. War’s das schon? Oder droht noch mehr Lira-Schwäche? Machen wir uns klar: In der Türkei haben wir nicht den klassischen Konflikt zwischen einer Regierung, die eher auf realwirtschaftliche Größen schaut, und einer Zentralbank, die vorwiegend auf die Inflationsentwicklung achtet. Aus jeder Perspektive wären niedrigere Inflation und stärkere Lira besser. Bei jeder Abwertungswelle werden die in Hartwährungen denominierten Verbindlichkeiten von Unternehmen und Banken ein immer größerer Hemmschuh für die wirtschaftliche Entwicklung, weil sich jedes Mal das Verhältnis von heimischen Einnahmen zu Schuldendienst verschlechtert. Der konjunkturell positive Effekt besserer Exportbedingungen dürfte gegenüber diesem Risiko verblassen. Eigentlich dürfte also kein Zielkonflikt zwischen Wirtschafts- und Geldpolitik existieren.

Seltsame Ansichten

Doch das tut er offensichtlich. Warum sonst hätte Erdogan seit Juli 2019 drei Zentralbankchefs entlassen? Der Konflikt hat eine andere, sehr türkeispezifische Ursache. Erdogan hat auch jüngst seine Theorie wiederholt, wonach eine Niedrigzinspolitik zu niedriger Inflation führen würde. In völliger Verdrehung von Ursache und Wirkung verweist er zum angeblichen Beleg gerne darauf, dass in Ländern mit niedriger Inflation die Zinsen niedrig seien. Das Problem der Türkei besteht somit darin, dass der Präsident (und nur auf ihn kommt’s im politischen Regime der Türkei an) eine nicht zielführende geldpolitische Strategie will. Der Konflikt entsteht, weil innerhalb der Zentralbank jedermann wissen dürfte, dass solch eine Geldpolitik nicht funktioniert. Ob mit Sahap Kavcioglu nun ein Zentralbankchef installiert wurde, der Erdogans seltsame Ansichten über Geldpolitik teilt, ist eine akademische Frage. Denn es kommt nicht darauf an, was Kavcioglu denkt oder will. Jeder neue Zentralbankchef könnte bei noch so guten Absichten nur eine Geldpolitik implementieren, die dem Präsidenten genehm ist. Denn mittelfristig – das hat die Entlassung Agbals überdeutlich gezeigt – scheitert jede andere Geldpolitik am Eingriff Erdogans.

Schon vermuten einige Optimisten, vielleicht könnte ja eine kleine, kaum inflationär wirkende Zinssenkung reichen, um Erdogan zu besänftigen. Diese Argumentation verkennt die Wirkungsweise von Geldpolitik. Klar, als Agbal in der vorletzten Woche den Leitzins um 200 Basispunkte anhob, hätten es vielleicht auch 100 Basispunkte getan, ohne dass die Inflation davongaloppiert wäre. Jetzt aber den Leitzins um 100 Basispunkte zu senken, hat eine ganz andere Wirkung. Warum? Selbst ein 200-Basispunkte-Zinsschritt verändert die Finanzierungsbedingungen in der Türkei nicht so extrem, dass damit die Inflation abgewürgt würde. Sie wirkt hauptsächlich mittels eines ganz anderen Kanals: Eine aktive Geldpolitik, die schnell, vorausschauend und überproportional auf inflationäre Entwicklungen re­agiert, kann Unternehmen, Arbeitnehmer und Konsumenten davon überzeugen, dass die Zentralbank die Inflation mittelfristig in den Griff bekommt. Die Inflationserwartungen gehen zurück. Nun sind Inflationserwartungen aber der stärkste Treiber von Inflation. Wenn kein Unternehmer erwartet, dass seine Konkurrenten die Preise anheben (wenn also seine Inflationserwartungen niedrig sind), wird kaum jemand wagen, selbst die Preise anzuheben. Und wenn kein Devisenhändler erwartet, dass die heimische Kaufkraft der Lira noch schneller erodiert, dann wird er ihr auch mehr Wert am Devisenmarkt zugestehen und wird eine inflationstreibende Abwertung un­terlassen. So werden sinkende Inflationserwartungen zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen. Agbal war offensichtlich der Meinung, dass dazu 200 Basispunkte nötig waren, aber vielleicht hätten es für den Moment auch 100 getan. Nimmt Kavcioglu jetzt wieder einen Teil der Zinserhöhung zurück, dann ist das ein starkes Signal dafür, dass die türkische Zentralbank weniger stark Inflation bekämpfen wird. Dadurch steigen Inflationserwartungen und damit die Inflation.

Ohne geeignete Geldpolitik muss die Regierung wohl andere Instrumente zur Inflationsbekämpfung verstärken: Reglementierung von Lebensmittelpreisen und anderen Preisen haben wir bereits gesehen. In diese Richtung dürfte es weitergehen – mit all den Nebenwirkungen auf wirtschaftliche Effizienz. Auch der Lira-Schwäche kann nicht mehr mit marktkonformen Instrumenten begegnet werden. Andererseits kann die Regierung einer drastischen Lira-Abwertung nicht tatenlos zusehen. Zu groß wäre das Risiko, dass heimische Wirtschaftseinheiten unter der Last von Fremdwährungsschulden einknicken. Was bleibt? Wir haben in den letzten Jahren immer wieder „weiche“ Formen der Kapitalverkehrskontrolle gesehen. Auch die dürften uns wieder begegnen. Dabei wächst das Risiko, dass auch „härtere“ Kapitalverkehrskontrollen zum Einsatz kommen. Ich will gar nicht prognostizieren, dass es dazu kommt. Aber allein die Angst davor könnte ausreichen, dass Kapital aus der Türkei flieht. Das kann neuen Abwertungsdruck erzeugen, und schon findet sich die Lira in einer Abwertungsspirale wieder.

Andererseits: Könnte nicht zur Not der Internationale Währungsfonds (IWF) zur Hilfe kommen? Und wenn es so einen Retter aus höchster Not gibt, ist dieses „Sicherungsnetz“ dann nicht geeignet, solche angstgetriebenen Abwertungsspiralen erst gar nicht entstehen zu lassen? In der Tat, ich halte es für möglich, vielleicht sogar für wahrscheinlich, dass bei allzu dramatischer Lira-Abwertung der Währungsfonds gerufen würde. Allerdings: Der Fonds würde ganz sicher eine stabilitätsorientierte Geldpolitik zur Bedingung für Hilfen machen. Den Fehler, den er bei der Griechenland-Rettung gemacht hat (zu großzügige Beurteilung der Schuldentragfähigkeit), wird man in Washington nicht wiederholen wollen. Das heißt: Würde Erdogan den Währungsfonds rufen, müsste er eingestehen, dass seine Einmischung in die Geldpolitik falsch war. Das ist ein hoher politischer Preis. Niemand kann 100% sicher sein, dass eine IWF-Hilfe selbst in einer Krisenlage nicht doch an nationalen Befindlichkeiten scheitern könnte. Ein Sicherheitsnetz, von dem man nicht weiß, ob es da ist, wenn man’s braucht, beruhigt aber niemanden.

*) Ulrich Leuchtmann leitet das Devisen-Research der Commerzbank.