Nachhaltigkeit bei Länderanalyse entscheidend
Es bedurfte beispielloser internationaler Sanktionen und Milliardenverluste, um Anlegern die Risiken von Investments in Staaten wie Russland aufzuzeigen. Manche Investoren ignorieren Nachhaltigkeitsfaktoren bei der Bewertung von Staaten, sei es Governance wie Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit oder Umweltfaktoren wie Klimawandel und Biodiversität. Diese haben jedoch enormen Einfluss auf die Wirtschaft und die Stabilität von politischen Systemen und können viel über ihre Zahlungsfähigkeit und -bereitschaft aussagen.
Ein wichtiges Argument für Investments in autokratische Regimes waren stets die höhere Wirtschaftsleistung und die höhere Rendite ihrer Staatsanleihen. Doch ist dies langfristig tatsächlich der Fall? Wie verlässlich sind Daten von Regimes ohne Pressefreiheit? Luiz Martinez von der University of Chicago nutzte Satellitenbilder, um die Zunahme der nächtlichen Beleuchtung zu untersuchen. Diese diente als Indikator für das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Das Resultat: Autokratien melden ein BIP-Wachstum, das tendenziell um bis zu 35% pro Jahr künstlich aufgebläht ist.
Als ähnlich ernüchternd stellt sich ein Vergleich der Renditen von Anleihen freier und unfreier Staaten heraus. Die Länder im J.P. Morgan Emerging Market Bond Index Global Diversified (EMBIGD), der das breitere Schwellenländeruniversum vertreten soll, werden gemäß der Länderklassifizierung von Freedom House in drei Gruppen aufgeteilt: „freie“, „teilweise freie“ und „nicht freie“ Staaten. Der Vergleich zeigt: In den vergangenen 15 Jahren übertrafen freie Länder den Gesamtindex um 0,31% pro Jahr, wohingegen die teilweise freien Länder um 0,61% hinter dem Index zurückblieben. Nicht freie Staaten entwickelten sich im Großen und Ganzen analog zum Index und übertrafen ihn lediglich um 0,09%, hauptsächlich dank einer leichten Outperformance ölexportierender nicht freier Länder aufgrund steigender Ölpreise in den letzten paar Jahren.
Entsprechend sollte ein Ausschluss von Autokratien der Performance eines Staatsanleihen-Portfolios mittelfristig nicht schaden. Im Gegenteil: Eine Auswahl von Emittenten anhand von Mindestanforderungen wie politischen Freiheiten und Bürgerrechten kann die Rendite verbessern, insbesondere auf gleich gewichteter Basis und in Phasen von Marktunsicherheit. Kurzum: Wer bei der Anleiheselektion Menschenrechte berücksichtigt, fährt langfristig besser.
Ein weiterer unterschätzter Faktor für die Bonität von Staaten ist der Umgang mit der Natur. Denn wer mit seinem Naturkapital schlecht wirtschaftet, schafft immer neue und weitreichendere Risiken, die sich negativ auf das BIP und somit auch auf die Zahlungsfähigkeit auswirken können. Daher riskieren Anleger, die den Umgang mit Naturressourcen nicht ins Zentrum ihrer Länderanalyse stellen, in Emittenten zu investieren, die deutlich herabgestuft werden könnten.
Die Weltbank schätzt, dass für die Hälfte der Länder, für die Daten verfügbar sind, die Kosten eines teilweisen Zusammenbruchs von Ökosystemen sogar den BIP-Verlust übersteigen, den die Corona-Pandemie verursacht hat. Eine Studie der Finance for Biodiversity Initiative fand zudem einen direkten Zusammenhang zwischen Naturverlust und Länderratings. Besonders hoch ist das Risiko von Bonitätsabstufungen laut der Studie für Asien. So könnte im Fall eines teilweisen Naturkollapses Chinas Bonität um sechs Stufen herabgesetzt werden, für Malaysia sind sieben Stufen möglich. Indien könnte bei einem teilweisen Zusammenbruch seines Ökosystems um fünf und Indonesien um vier Stufen abrutschen. Da Ökosysteme verbunden sind, kann ihr Kollaps zudem mehrere Länder derselben Region gleichzeitig betreffen, was die negativen Auswirkungen vervielfacht.
Auch die Klimapolitik eines Landes spielt eine große Rolle. Nicht nur bringt eine Verschärfung der Klimakrise die Lebensmittelversorgung in Gefahr und erhöht so die Zahl von Konflikten. Länder, die ihre Energiesicherheit und -selbstversorgung gewährleisten können, verschaffen sich einen Wettbewerbsvorteil: Erneuerbare Energiequellen sind heute die günstigste Option und Staaten können so auch ihre Abhängigkeit von Energieimporten verringern – die Vorteile dessen zeigt die Energiekrise, die mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine eintrat, sehr deutlich. Hinzu kommt: Die Energiewende wird alle Sektoren aufmischen, und es ist wahrscheinlich, dass auch auf globaler Ebene CO2-Steuern eingeführt werden – erste Schritte waren das CO2-Grenzausgleichssystem der Europäischen Union (EU) sowie die Einführung der Emissionshandelssysteme in der EU und China.
Nur eine Länderanalyse, bei der Nachhaltigkeitsfaktoren und der Umgang mit Naturressourcen den Kern der Bewertung bilden, reflektiert Risiken und Chancen angemessen. Angesichts dieser Faktoren ergibt sich für manche Staaten ein Rating, das nicht mit dem der großen Ratingagenturen übereinstimmt. So rangieren beispielsweise Kanada und Australien, die von Ratingagenturen wie Standard & Poor’s mit Höchstratings von „AAA“ bewertet werden, in Candriams ESG-Länderanalyse nicht einmal unter den Top 20 – wegen Bergbau, Waldabholzung und der Herstellung und Nutzung fossiler Energien.
Die Klimakrise ist ein globales Problem und erfordert gemeinsame Lösungen. Menschen verstehen die Notwendigkeit dazu sehr gut – das zeigt die Hilfsbereitschaft für die Opfer des Krieges in der Ukraine oder des Erdbebens in der Türkei. Politik und Finanzindustrie müssen dies auch tun und Länder unterstützen, die eine konstruktive Rolle im globalen Ökosystem spielen, demokratische Normen und Menschenrechte achten und zusammen mit anderen darauf hinarbeiten, die Klimakatastrophe abzuwenden.