Ölmarkt im Zwiespalt
Von Alex Wehnert, Frankfurt
Die Debatte um eine Freigabe staatlicher Reserven zeigt am Ölmarkt deutliche Wirkung. Der Preis der wichtigsten Nordseesorte Brent Crude rutschte in der Nacht zum Montag auf 77,58 Dollar pro Barrel und erreichte damit das tiefste Niveau seit Anfang Oktober. US-Leichtöl der Sorte West Texas Intermediate (WTI) notierte mit 74,76 Dollar ebenfalls so tief wie seit fast zwei Monaten nicht mehr. Bei WTI sorgte der Wechsel vom Dezember- in den Januar-Future zuletzt noch für zusätzlichen Druck.
Japan-Berichte belasten
Zu den Rückgängen trugen indes vor allem Medienberichte aus Japan bei. Demnach stehe die Regierung in Tokio davor, strategische staatliche Reserven anzuzapfen. Dies ist per Gesetz eigentlich nur bei Angebotsengpässen oder Naturkatastrophen erlaubt, als Mittel gegen zu hohe Preise ist ein solcher Schritt nicht vorgesehen. „Man sucht offenbar nach Wegen, dieses Gesetz zu umgehen“, kommentieren die Analysten der Commerzbank. So machten Berichte unter Berufung auf Quellen aus Regierungskreisen die Runde, laut denen jener Teil der Ölreserven freigegeben werden soll, der über das vorgegebene Bestandsminimum hinausgeht. Angeblich hielt Japan im September Reserven, die den Bedarf von 145 Tagen abdeckten – mindestens erforderlich wäre eine Menge, die für 90 Tage ausreichen würde.
Tokio reagiert mit seinen aktuellen Vorbereitungen auf eine Aufforderung der Vereinigten Staaten. Diese bemühen sich derzeit darum, andere große Verbrauchsländer zu einem koordinierten Vorgehen auf der Angebotsseite zu bewegen. Denn die Möglichkeiten der USA, über eine steigende heimische Förderung gegen die Unterversorgung aktiv zu werden, erscheinen begrenzt. Laut Daten des Energieministeriums in Washington schwankt die wöchentliche Produktion in den Vereinigten Staaten seit Jahresbeginn – abgesehen von sehr wenigen Ausreißern – zwischen 11 und 11,5 Mill. Barrel pro Tag. In der zweiten Novemberwoche entwickelte sie sich wieder rückläufig.
Indes ist die jüngste Rally der Energierohstoffe für die US-Verbraucher deutlich spürbar geworden, die Benzinpreise an der Tankstelle haben den höchsten Stand seit sieben Jahren erreicht. Analysten machen dies als wichtigen Grund dafür aus, dass die Zustimmungswerte für US-Präsident Joe Biden in zahlreichen Umfragen zuletzt eingebrochen sind.
Der Demokrat sprach bei einem virtuellen Gipfeltreffen in der vergangenen Woche auch mit dem chinesischen Staatschef Xi Jinping über den Vorteil der Verwendung staatlicher Ölreserven. Die Volksrepublik hatte zuletzt im September die strategischen Bestände angezapft. Auch Indien soll sich mit einem solchen Schritt beschäftigen.
Rohstoff-Analyst Carsten Fritsch von der Commerzbank gibt allerdings zu bedenken, dass eine Freigabe strategischer Reserven nur Sinn ergibt, um eine kurzfristige Unterversorgung zu überbrücken. Laut Ryan McGrail, Senior Credit Research Analyst beim zu Natixis Investment Managers gehörenden Vermögensverwalter Loomis Sayles, könnten derartige Maßnahmen sogar kontraproduktiv wirken. Denn mehr als die aktuelle Angebotsknappheit habe die Angst vor einer künftigen Unterversorgung die jüngste Rally am Ölmarkt angetrieben. Marktteilnehmer dürften zusätzlichen Input von staatlicher Seite also als Zeichen werten, dass die Situation angespannter ist als angenommen.
Zugleich kursierten Berichte, laut denen das um Verbündete wie Russland erweiterte Ölkartell Opec plus seine Förderstrategie anpassen könnte, was den Preisen am Montag im Handelsverlauf wieder Auftrieb verlieh. Bei dem für den 2. Dezember angesetzten Ministertreffen der Allianz steht eine erneute Erhöhung der Produktion um 400000 Barrel pro Tag ab Januar zur Debatte. Doch selbst diese moderate Ausweitung dürfte laut Delegierten in Frage gestellt werden, sollten die größten Verbrauchsländer tatsächlich strategische Reserven freigeben.
Nukleare Option
Damit steckt der Ölmarkt in einem Zwiespalt, die Distanz zwischen der Opec plus und Washington dürfte sich noch ausweiten. Biden hatte zuletzt bereits erfolglos versucht, Druck auf das Kartell auszuüben und es somit zu einer Produktionsausweitung über das angekündigte Maß hinaus zu bewegen. „Nun bleibt abzuwarten, ob Washington noch zu anderen Mitteln greift. Im US-Kongress wird schon seit geraumer Zeit über ein Antitrust-Gesetz diskutiert, mit Hilfe dessen die Opec-Mitglieder für angebliche verbotene Preisabsprachen haftbar gemacht werden könnten“, sagt Commerzbank-Analyst Fritsch. Bis jetzt habe eine solche „nukleare Option“ aber nie eine Mehrheit gefunden und wäre zudem am Veto des Präsidenten gescheitert.
Indes müssen die USA darauf achten, den Ölmarkt nicht bald schon wieder ins andere Extrem zu treiben. Denn die starken Anstiege der Corona-Neuinfektionen in vielen Ländern Europas lösen bereits Sorgen darüber aus, dass die Ölnachfrage wieder spürbar abnehmen könnte. Sollte die Opec plus die Produktion in einem solchen Umfeld tatsächlich wieder ankurbeln, bis sämtliche ab Mai 2020 zurückgehaltenen Mengen an den Markt zurückgekehrt sind, droht laut Fritsch schnell wieder ein hoher Angebotsüberschuss.