Positive Aussichten für Russlands Flaggschiffe
Von Eduard Steiner, Moskau
Während im Westen Lockdowns herrschen, nimmt das Leben in Russland bereits seinen gewohnten Lauf. Partielle Einschränkungen sind weitgehend passé, Cafés haben rund um die Uhr geöffnet. Der lockere Umgang mit der Corona-Pandemie ist freilich nicht neu. Schon 2020 und speziell im Frühjahr ging Russland mit dem Mittel des Lockdowns relativ sparsam um. Das hat einerseits zu den weltweit vierthöchsten Infektionszahlen und zur zweithöchsten Übersterblichkeit unter den europäischen und den G20-Staaten geführt. Andererseits kam die Wirtschaft weitaus besser davon als in anderen Schwellenländern, geschweige denn in westlichen Industriestaaten.
Unterm Strich fiel das Bruttoinlandsprodukt 2020 um 3,1%, so die vorläufige Schätzung des Statistikamtes Rosstat. Das ist zwar die größte Kontraktion seit der Finanzkrise 2009. Aber im Vergleich zum damaligen Minus von 7,8% ist das nicht einmal halb so viel und besser als die vom Wirtschaftsministerium prognostizierten minus 3,8%. Der Großteil des Einbruchs kommt auf das erste Halbjahr und lag an der kurzzeitig verordneten Selbstisolierung sowie am Einbruch der Nachfrage nach Öl, dem wichtigsten Exportprodukt.
Generell verweisen Ökonomen darauf, dass der im Westen wichtige Dienstleistungssektor in der russischen BIP-Struktur deutlich weniger Bedeutung hat – ein Vorteil in der Pandemie. Zugute kommt dem Land auch, dass die Regierung seit dem Ölschock von 2014 überschüssige Einnahmen aus dem Ölverkauf ab einem Preis von 42 Dollar je Barrel hortet. Die internationalen Gold- und Währungsreserven sind mit nun 589,5 Mrd. Dollar seit einem halben Jahr relativ stabil nahe am Allzeithoch.
Vor diesem Hintergrund hat sich die Erholung des russischen Aktienmarktes nach dem Corona-Crash doch sehr zäh gestaltet. Mitschuld daran war neben der Preis- und Exportkrise beim Öl auch der Abverkauf im Vorfeld der US-Wahlen, weil befürchtet wurde, dass Joe Biden antirussischer agieren würde.
Seit der Wahl jedoch ist der Rubel-Leitindex IMOEX um gut ein Viertel auf ein neues Allzeithoch Anfang Januar gestiegen. Der in Dollar denominierte RTS schaffte ein Plus von gut einem Drittel auf etwa 1500 Punkte, wobei er von seinem Allzeithoch im Jahr 2008 (2488 Punkte) weit entfernt bleibt, während andere Emerging Markets längst wieder Rekordwerte erzielen. Neben dem seit 2014 fast halbierten Ölpreis belasten nun mal diverse Faktoren wie Sanktionen sowie generell das Länderrisiko. Demgegenüber haben Investoren auf den innenpolitischen Skandal der Vergiftung und Verhaftung des Oppositionellen Alexej Nawalny so gut wie nicht reagiert. „Der Markt ist pragmatisch, vielleicht auch zynisch, aber er erwartet keinen radikalen politischen Umbruch“, sagt Wjatscheslaw Smoljaninow, stellvertretender Chefanalyst bei BCS Global Markets, im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. Die Investoren, die zu zwei Dritteln aus dem Ausland kämen, wüssten, dass der russische Markt nicht schnell wachse und gewisse Gefahren berge.
Das im Vergleich mit anderen Schwellenländern chronisch niedrige Kurs-Gewinn-Verhältnis ist daher trügerisch. Dass es nach der Erholung in den vergangenen Monaten beim RTS nun 9,4 und beim MSCI Russia acht betrage, sei für russische Verhältnisse nicht mehr sehr günstig, erklärt Christian Putz, russlanderfahrener Gründer der Londoner Investmentfirma ARR Investment Partners, im Gespräch. „Die Erfahrung zeigt, dass man Russland nicht kaufen soll, wenn es günstig ist, sondern wenn es sehr günstig ist. Letzteres ist jetzt nicht der Fall.“ Laut Putz gebe es generell eine hohe Korrelation zwischen dem russischen Markt und dem Ölpreis. Derzeit sehe man aber, dass der Markt nach einer fast zehnprozentigen Korrektur ab Mitte Januar diese zwar teils wieder wettgemacht habe, aber doch dem starken Ölpreisanstieg – mit 61 Dollar je Barrel der Sorte Brent bereits wieder auf dem Vorkrisenniveau – hinterherhinke. „Es könnte ein Aufholwachstum geben.“
Der gestiegene Ölpreis sollte auch den Rubel stärken. Die russische Konsens-Prognose lautet auf 69,2 Rubel je Dollar statt der jetzigen knapp 74 Rubel. „Genug gewartet, Zeit zu kaufen“, betitelte daher Morgan Stanley dieser Tage eine Notiz, in der die Analysten für eine Rückkehr zu russischen Aktiva plädieren, zumal geopolitische Risiken gesunken seien. Was den Kapitalabfluss betrifft, der sich 2020 auf 47,8 Mrd. Dollar mehr als verdoppelt hatte, konnte die Zentralbank für Januar immerhin einen leichten Rückgang vermelden. Hinsichtlich Inflation indes vermeldete sie erstmals seit zwei Jahren eine Überschreitung der Fünf-Prozent-Marke. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hält dies für temporär und fürchtet vielmehr, dass sie bis Jahresende unter die angepeilten 4% fällt, weshalb er dringend eine Senkung des Leitzinses um einen halben Prozentpunkt auf 3,75% empfiehlt. 2020 hatten die Währungshüter den Leitzins um letztlich zwei Prozentpunkte auf das Rekordtief von 4,25% gesenkt.
Dividendenparadies
Angesichts der globalen Erholung und der Tatsache, dass für Russland ein BIP-Wachstum von 3% (IWF-Schätzung) prognostiziert wird, erwartet BCS Global Markets den RTS bis Jahresende bei 1680 Punkten. Vor allem die – im RTS ohnehin dominanten – zyklischen Unternehmen hätten laut Smoljaninow aufgrund der zu erwartenden Gewinnsteigerungen ausreichend Kurspotenzial. Während sich die Metallurgiekonzerne schon gut entwickelt hätten, stünde speziell im Gassektor noch einiges bevor. „Im Unterschied zum Ölpreis ist der Gaspreis noch weit von hohen Preisen entfernt – einmal abgesehen davon, dass dieser Rohstoff ökologischer und daher langfristig interessanter ist“. Während der private Flüssiggas-Exporteur Novatek schon relativ gut bewertet sei, habe der staatliche Branchenprimus Gazprom großes Aufholpotenzial. Im Bankensektor wiederum favorisiert Smoljaninow den staatlichen Branchenprimus Sberbank, zumal er sich zum Techkonzern wandle. Die Aktie der hochinnovativen Privatbank TCS Group gilt zwar als Börsenliebling, ist demnach aber auch schon gut gelaufen.
Nicht nur, aber vor allem die staatlichen Konzerne sind dafür verantwortlich, dass Russland ein global führendes Dividendenparadies ist. Daran ändert auch nichts, dass es für 2020 krisenbedingt zu Kürzungen kommt. Im Konsens wird für 2020 eine Dividendenrendite von immer noch 5,4% erwartet, fast eineinhalbmal so viel wie für andere Schwellenländer