Rekordpreise für Gebrauchtwagen ein böses Omen
„Denn mit sehenden Augen sehen sie nicht, und mit hörenden Ohren hören sie nicht.“ An dieses Bibelzitat mag sich erinnert fühlen, wer in diesen Wochen versucht, die Aussagen der EZB zur Inflation mit seinen persönlichen Einkaufserlebnissen in Einklang zu bringen. Die offizielle Sprachregelung vom „temporären Überschießen“ der Inflationsrate über den Zielkorridor von 2% hinaus ist ein hübscher Euphemismus, hat aber mit der harten Realität in diesem Herbst wenig zu tun.
Beschleunigend wirkt die aktuelle Energiekrise, deren Geschwindigkeit und Ausmaß niemand vorhersehen konnte. Sie ist Folge einer Verkettung von Umständen, die zwar nicht sonderlich überraschen, deren simultanes Auftreten aber zu einzigartigen Verwerfungen bei den Gas- und Strompreisen führen.
Gut gedacht ist eben noch nicht gut gemacht. Die Wende hin zu erneuerbaren Energien und CO2-Neutralität ist richtig und wichtig. Dass der parallele Rückzug aus Kernenergie und Kohleverstromung – ohne belastbaren Plan für die Übergangsphase – nicht ohne Folgen bleibt, ist allerdings unter Experten genauso unstrittig. Hier sind Bürokratieabbau und mehr Flexibilität gefragt. Das Festhalten an fixen Abschaltdaten für Kernkraftwerke, während sich geplante Windparks in mehrjährigen Genehmigungsprozessen verheddern, kann nicht funktionieren. Weht dann noch weniger Wind als in den Vorjahren, läuft die Industrie wieder auf Hochtouren und steigt auch die Gasnachfrage in Asien, dann schaut man buchstäblich in die Röhre. Und aus der kommt, derzeit scheinbar zu wenig, russisches Erdgas.
Inwieweit der Anstieg des Gaspreises um 150% in den vergangenen Wochen nur zufällig mit dem Gerangel um die Betriebserlaubnis für Nord Stream 2 zusammenfällt, darüber mag man trefflich spekulieren. Es ändert aber nichts daran, dass sich Verbraucher diesen Winter und vermutlich auch in den Folgejahren auf spürbar höhere Energiekosten einstellen müssen. Ein großer Baustein im Inflationsmosaik.
Unvorbereitete Angebotsseite
Auch die Liste der weiteren Preistreiber ist lang. Die Aussagen „Frühestens in drei Monaten“ oder „Das wird teuer“ sind Standardantworten quer durch viele Industrien geworden. Schuld daran sind im Wesentlichen drei Effekte: der aktuelle Halbleitermangel, Stress in den Logistikketten und – quasi als Metaproblem über allem – die in allen Regionen parallel sprunghaft gestiegene Nachfrage. Mit dem Ende der Corona-Beschränkungen in weiten Teilen der Welt entlädt sich aufgestaute Nachfrage und trifft auf eine personell und logistisch nicht vorbereitete Angebotsseite.
Die ungewohnte Knappheit treibt seltsame Blüten. Lieferzeiten für Neuwagen reichen bis tief ins nächste Jahr hinein, Mietwagenunternehmen haben Probleme, die während Corona ausgedünnten Flotten wieder zu erweitern, und Gebrauchtwagen sind salopp formuliert das neue Gold – und ein Lehrbuchbeispiel für die sogenannte „Kreuzpreiselastizität“: Steigende Preise und sinkende Verfügbarkeit von Neuwagen führen zu entsprechenden Verwerfungen bei ihrem nächstbesten Substitutionsgut – Gebrauchtwagen.
Das neue Gold
Passend dazu hat sich unter Ökonomen ein ganz spezieller Index zu einem wertvollen Frühindikator für die Inflation entwickelt – der „Manheim US Used Vehicle Value Index“. Dieser vom weltweit größten Gebrauchtwagen-Auktionator Manheim veröffentlichte Index reflektiert die von Autohändlern durchschnittlich gezahlten Einkaufspreise in den Vereinigten Staaten. Zwei bis drei Monate später und natürlich erhöht um die Marge des Händlers schlagen sich diese Preise in den für die Inflationsrechnung maßgeblichen Konsumentenpreisen nieder.
Frühwarnsystem
Ein nicht zu unterschätzendes Frühwarnsystem. Aktuell notiert dieser Index rund 65% über seinem Corona-Tief. Doch diese Entwicklung ist keinesfalls nur ein Ausbügeln der Corona-Delle im Frühjahr 2020. Viel besorgniserregender ist, dass er auch knapp 50% über den „normalen“ Ständen des Jahres 2019 notiert und damit eine ganz neue Preisdimension erreicht hat. Einen solch starken Anstieg hat es noch nie gegeben. Dennoch klagen Autohändler auf beiden Seiten des Atlantiks über zu geringe Bestände. Den zu erwartenden dämpfenden Effekt auf die Nachfrage haben diese Preise bislang nicht.
Zu glauben, dass solche Preisentwicklungen quer durch alle Industrien hindurch lediglich vorübergehend sind, geht unseres Erachtens an der Lebenswirklichkeit vorbei. Richtig ist, dass allein aus mathematischen Gesetzmäßigkeiten heraus die Veränderungsrate der Inflationsrate irgendwann wieder unter 2% fallen wird. Die Frage ist nur, auf welchem Preisniveau wir uns dann befinden. Werden Gebrauchtwagenpreise demnächst um 30% sinken? Werden Händler Preiserhöhungen rückgängig machen und Gastwirte Speisekarten mit niedrigeren Preisen neu drucken? Daran mag man nicht so recht glauben. Zumindest nicht, solange sich die Wirtschaft weiter ordentlich entwickelt.
Starke Argumente für Aktien
Noch bleibt es vergleichsweise ruhig auf der Arbeitnehmerseite. Doch im Niedriglohnsegment werden händeringend Mitarbeiter gesucht, und angesichts immer noch auskömmlicher Gewinnmargen werden die Begehrlichkeiten der Gewerkschaften auch nicht kleiner. Verständlich, denn es zeigt sich einmal mehr, dass gegen Geldentwertung nur die Teilhabe am Wertzuwachs von Produktiv- und Sachkapital schützt. Stärkere Argumente für die – idealerweise staatlich geförderte – langfristige Aktienanlage lassen sich nicht finden. Daran können auch vorübergehende Kursrücksetzer nichts ändern.
Zuletzt erschienen:
Aktien als guter Diversifikator für Aktien (194), DWS
Passive Anlagen verändern Marktstruktur und Marktverhalten (193), Berenberg
Warum Schwellenländer in jedes global diversifizierte Depot gehören (192), Quality Growth Boutique, Vontobel
Multi-Asset-Fonds können wertvollen Beitrag zum Vermögensaufbau liefern (191), Assenagon