Euro

Überraschungschance für die Gemeinschaftswährung

Der Euro besitzt gegenüber dem Greenback deutliches Überraschungspotenzial. Sogar ein Anlauf auf die 2014 erreichten Hochs um die Marke von 1,40 Dollar erscheint möglich.

Überraschungschance für die Gemeinschaftswährung

Von Jörg Scherer*)

„Barfuß oder Lackschuh? Beides!“ – so überschrieben wir den Aktienteil unseres technischen Jahresausblicks 2021 und so lautet unser Motto in den kommenden Monaten weiterhin. Doch dieses Leitmotiv trifft möglicherweise nicht nur auf Aktien zu, sondern auch beim Währungspaar Euro-Dollar könnte Anlegern ein zweigeteilter FX-Investmentjahrgang bevorstehen.

Gemessen am Jahresschlusskurs 2020 (1,2212 Dollar) könnte im bisherigen Jahresverlauf der Eindruck „außer Spesen nichts gewesen“ entstehen. Doch weit gefehlt: Die in unserem Jahresausblick prognostizierte Euro-Schwäche brachte im 1. Quartal letztlich einen idealtypischen Pullback an den alten Basisabwärtstrend seit 2008 (auf Jahresbasis aktuell bei 1,1932 Dollar). Der zuvor gesehene Trendbruch wird also untermauert.

Gezeitenwende

Noch ein weiteres, spannendes Detail unterstreicht unsere Basisannahme eines erfolgreichen Rücksetzers. Traditionell berechnen wir für den Jahresausblick sogenannte Pivotpunkte. Vereinfacht ausgedrückt lassen sich aus dem Hoch-, dem Tief- und dem Schlusskurs der Vorperiode durch Durchschnittsbildung neuralgische Punkte für die Folgeperiode ableiten. Besonders aktive Trader wissen die Bedeutung dieser Durchschnittskurse als zu­künftige Widerstands- bzw. Unterstützungsmarken zu schätzen. Auf Jahresbasis führt die entsprechende Mittelwertbildung zu einer Pivot-Unterstützung bei 1,1719 Dollar. Dieses Level entspricht fast punktgenau dem bisherigen Jahrestief (1,1720 Dollar)! Der Bruch des langfristigen Baissetrends seit 2008 besitzt zudem noch eine weitere charttechnische Dimension: Im übergeordneten Kontext kann die Kursentwicklung der letzten 13 Jahre somit als trendbestätigende Flagge interpretiert werden. Unser Basisszenario einer grundsätzlichen Gezeitenwende zugunsten des Euro erhält dadurch zusätzliche Nahrung.

Höhere Volatilität voraus

Mit Blick auf die High-Low-Spannen des Währungspaars Euro-Dollar der vergangenen 45 Jahre zurück bis in die 1970er-Jahre fallen die geringen Schwankungsbreiten der vergangenen Dekade ins Auge. Der historische Jahresdurchschnitt von 18 US-Cents wurde zuletzt oftmals deutlich unterschritten. Spektakulär unspektakulär war vor allem die Handelsspanne des Jahres 2019: Mit weniger als 7 US-Cents zwischen Jahreshoch und -tief wies keine Zwölfmonatsperiode seit 1974 eine geringere Schwankungsbreite auf. Doch der bisherige Jahresverlauf 2021 toppt dieses Extrem. So beträgt die Differenz zwischen den Extrempolen des Jahres – Stand heute – gerade einmal knapp 6,5 US-Cents. Der bisherige Jahresverlauf kann bei dem Währungspaar also als äußerst „ruhig“ bezeichnet werden. Es ist unwahrscheinlich, dass das Jahr so schwankungsarm zu Ende gehen wird. Vielmehr sollten Anleger mit einer höheren Volatilität rechnen.

Zweigeteiltes Nachwahljahr

Die Analyse zyklischer Einflussfaktoren darf bei der Beurteilung der Perspektiven des Währungspaars nicht fehlen, denn der Faktor Saisonalität liefert gegenwärtig möglicherweise ein Kernargument. Die tatsächliche Entwicklung des Jahres 2021 harmoniert bisher mit dem durchschnittlichen Verlauf aller US-Nachwahljahre seit 1973. So deckt sich der eingangs beschriebene Pullback mit der typischen Stärke des Greenback zu Beginn des US-Nachwahljahres. Das Verlaufsmuster legt im Juni allerdings die Ausprägung eines zyklischen Wendepunktes nahe, sodass die europäische Währung in der zweiten Jahreshälfte über saisonalen Rückenwind verfügt. Vor allem von Ende Juni bis Anfang Oktober zeichnet sich der Euro zum Dollar durch eine besondere saisonale Stärke aus. Fortan verdienen Chartsignale „pro Euro“ deshalb besondere Beachtung.

Wichtige Bastion

Bei den charttechnischen Euro-Dollar-Schlüsselmarken beginnen wir im Sinne des vorsichtigen Kaufmannes mit der Unterseite. Der bereits angeführte Jahrespivotpunkt (1,1719 Dollar) unterstreicht die Kernhaltezone zwischen 1,17 und 1,15 Dollar. Auf diesem Niveau fällt das Fibonacci-Cluster aus zwei unterschiedlichen Retracements (1,1735 bzw. 1,1694 Dollar) mit den Tiefs der vergangenen Quartale sowie dem ehemaligen Abwärtstrend seit Sommer 2008 (aktuell bei 1,1540 Dollar) zusammen. Um die von uns favorisierte Gezeitenwende nicht zu gefährden, gilt es in Zukunft, diese Bastion nicht mehr zu unterschreiten. Aufgrund ihrer Bedeutung ist die beschriebene Rückzugszone als strategische Absicherung prädestiniert.

Auf der Oberseite sticht indes das Mehrjahreshoch vom Februar 2018 bei 1,2555 Dollar ins Auge. Zusammen mit zwei weiteren Fibonacci-Leveln (1,2516/1,2597 Dollar) sowie der 200-Monats-Linie (aktuell bei 1,2614 Dollar) entsteht hier der Signalgeber schlechthin. Schließlich würde ein Spurt über diese Kumulationszone die Bodenbildung der vergangenen sechs Jahre abschließen. Eine abgeschlossene untere Umkehr besitzt das Potenzial, das Währungspaar nochmals nachhaltig in Bewegung zu bringen. Im Erfolgsfall eröffnet sich ein deutliches Überraschungspotenzial für den Euro. Langfristig rechtfertigt die Bodenbildung sogar einen Anlauf auf die Hochs des Jahres 2014 bei knapp 1,40 Dollar.

*) Jörg Scherer ist Leiter Technische Analyse bei HSBC Deutschland.