Chemieindustrie

Vieles hängt an einer Branche

Wenn Chemieunternehmen stillstehen, werden unter anderem Bau-, Auto- und Verpackungsindustrie nicht mehr produzieren können. Die Branche steht im Krieg besonders im Fokus der Anleger.

Vieles hängt an einer Branche

Von Christian Albrecht und

Markus Rohleder *)

Mit der russischen Invasion in der Ukraine sowie den beschlossenen sowie diskutierten Sanktionen der westlichen Staatengemeinschaft gegenüber Russland ist auch die Chemiebranche in den Fokus der Märkte geraten. Aufhorchen ließen besonders die Warnungen führender Branchen- und Unternehmensvertreter aus der Chemie, wonach es in der gesamten deutschen Wirtschaft zu massiven Problemen kommen werde, wenn für die Chemieindustrie Erdgas in Deutschland knapp wird. Auch wenn es bei diesen Äußerungen auf Verbandsebene eher darum geht, die eigene Branche für den Worst Case eines Gaslieferengpasses bei einer Repartierung der Reserven möglichst gut zu positionieren, sind die Warnungen aber auch als klares Zeichen an die Politik zu verstehen. Die Chemieindustrie zählt zu den energie- und rohstoffintensivsten Branchen.

Die ausreichende Verfügbarkeit von Erdgas und Rohöl als Rohstoffe oder im Rahmen der Energieerzeugung stellt deshalb eine große Herausforderung dar. Aktuell ist die Gasversorgung nach Angaben des Wirtschaftsministeriums zwar gesichert. Schon allein eine Warnung vor einem Herunterfahren des weltweit größten chemischen Verbundstandortes würde zu einer großen Verunsicherung an den Märkten führen. Im Zuge der Verschärfung der Sanktionen gegen Russland verständigte sich die europäische Staatengemeinde auf ein Kohleembargo, das sich noch am ehesten kompensieren und verschmerzen ließ. Mit dem Entdecken immer neuer Gräueltaten und der fortschreitenden Gewalt durch die russischen Streitkräfte gegenüber der Zivilbevölkerung wird der Druck auf die europäischen Regierungen und insbesondere auf Deutschland, einem Gasembargo zuzustimmen, immer größer.

Überschaubares Exposure

Zu Beginn des Ukraine-Krieges wurden an den Märkten vor allem die direkten Auswirkungen für die Unternehmen in Augenschein genommen. Mit zunehmender Kriegsdauer zeigt sich immer deutlicher, dass die indirekten Effekte einerseits aus Lieferengpässen sowie Rohstoffpreissteigerungen und andererseits aus den Sanktionen zu nachhaltigeren und tiefgreifenden Beeinträchtigungen auf breiter Front führen. Für die Chemiebranche sind Russland und die Ukraine als Absatzmarkt zwar wenig bedeutend. Das direkte Russland- und Ukraine-Exposure ist überschaubar. Erheblicher als die direkten Auswirkungen sind hingegen die indirekten Folgen des Krieges in Form hoher Energiepreise und Lieferkettenengpässe.

Aufgrund der noch fehlenden LNG-Terminals in Deutschland und der innerhalb der EU relativ hohen Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen wären deutsche Unternehmen und allen voran die Chemiebranche und dort insbesondere deren heimische Produktionsstätten von einem Gasembargo besonders stark betroffen. Die Chemieindustrie beansprucht gut 15% des Gasverbrauchs zur Energiegewinnung in Deutschland. Das verarbeitende Gewerbe insgesamt kommt auf einen Anteil von gut 30% am Erdgasverbrauch zur Energiegewinnung. Erdgas wird in der Chemieindustrie aber nicht nur als Energieträger (73% des Gesamtverbrauchs), sondern auch als Rohstoff (27%) eingesetzt. Dieser Bedarf ist in den oben angeführten Anteilen noch nicht enthalten. Das Substitutionspotenzial für Erdgas für die Chemiebranche wird vom BDEW auf lediglich 4% geschätzt. Da vor allem Deutschland angesichts der hohen Abhängigkeit vom russischem Gas betroffen ist, wäre die Verlagerung von Teilen der Produktion durch die global aufgestellten Chemiekonzerne an andere Standorte denkbar. Aufgrund un­terschiedlicher Produktportfolien an den Standorten ist dies aber nicht eins zu eins umsetzbar.

Auch wenn beim Gasverbrauch weiteres Einsparpotenzial möglich ist – der BDEW schätzt das Substitutions- und Reduzierungspotenzial auf etwa 20% –, entstünde bei einem Gaslieferungsstopp aus Russland eine signifikante Lücke. Für die deutsche Wirtschaft drückt der Schuh besonders, weil etwa die Hälfte des Gasverbrauchs auf sogenannte geschützte Kunden entfällt, bei denen es sich unter anderem um private Haushalte und soziale Einrichtungen wie Krankenhäuser, Pflegeheime oder die Polizei handelt. Die Industrie zählt nicht dazu.

Drei Krisenstufen

Insofern ist es wichtig, die Kriterien festzulegen für den Fall, dass die Gasversorgung nicht für alle reichen sollte. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie richtet sich dabei nach dem Notfallplan Gas für die Bundesrepublik Deutschland. Der Plan sieht drei Hauptkrisenstufen vor: (1) Die Frühwarnstufe, (2) die Alarmstufe und (3) die Notfallstufe. Die Frühwarnstufe wurde bereits Ende März von Wirtschaftsminister Robert Habeck ausgerufen. Eine Rationierung, also eine Übertragung der Gaslastverteilung an die zuständigen staatlichen Stellen nach der Gassicherungsverordnung (GasSV), die dann über die weitere Verteilung entscheiden müssen, ist erst in der Stufe 3 des Notfallplans Gas vorgesehen. Bei einem Engpass wäre konkret die Bundesnetzagentur für die Verteilung zuständig und würde in diesem Fall anordnen, wer Gaslieferungen in welchem Umfang erhält und wer nicht. Von dieser Situation ist Deutschland noch entfernt, und es wird viel unternommen, dass es nicht dazu kommen wird. Entsprechend der Frühwarnstufe beobachtet der Krisenstab die Versorgungslage.

Es ist davon auszugehen, dass in einer konzertierten Aktion unter anderem von Staat, Bundesnetzagentur, Versorgern, Netzbetreibern und den stromverbrauchenden Unternehmen die Kriterien festgelegt werden, die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen, so weit es geht, zu begrenzen, indem Wertschöpfungsketten bestmöglich er­halten werden. In der Tat steht die Chemieindustrie am Anfang vieler Wertschöpfungsketten. Daher nutzt es wenig, wenn Gas für einige Unternehmen oder nach dem Gießkannenprinzip zugeteilt wird, aber chemische Vorprodukte für den Produktionsprozess fehlen. Wenn die Chemieunternehmen stillstehen, werden Branchen wie Bau-, Auto- und Verpackungsindustrie nicht mehr produzieren können.

Dazu ist neben der Erfassung der Gasverbräuche eine Abfrage bei den rd. 2500 größten Gasverbrauchern gestartet worden. Zudem werden Gespräche mit Branchenvertretern über Einsparmöglichkeiten geführt. Auch der private Verbrauch ist in seiner Gesamtheit keine heilige Kuh mehr; auch hier wird mit Einschränkungen zu rechnen sein, wie aus aktuellen Aussagen der Bundesnetzagentur zu schließen ist. In einem Rationierungsszenario wären Produktionsrückgänge auch in der Chemieindustrie wahrscheinlich und wohl unvermeidbar. Die Warnungen aus der Chemiebranche über die Ernsthaftigkeit der Lage dürften Politiker und die öffentliche Wahrnehmung für die hohe Bedeutung der chemischen Industrie für das Funktionieren der Wirtschaft sensibilisiert haben. Deshalb werden die politischen Entscheidungsträger sicherlich auch darauf achten, Stillstände von großen chemischen Verbundwerken zu ver­meiden.

*) Christian Albrecht und Markus Rohleder sind als Analysten bei der DZ Bank tätig.

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