Vom Tiefflieger zur Wachstumshoffnung
Von Andreas Hippin, London
Das britische Bauunternehmen Kier hat gute Wachstumsaussichten. Seine Bewertung ist mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von weniger als 5 nicht gerade anspruchsvoll. Doch seit die Nummer 2 der Branche, Carillion, 2018 unter einer Schuldenlast von 1,5 Mrd. Pfund zusammenbrach, sind Anleger vorsichtig, wenn es um Bauaktien geht.
Das Carillion-Management hatte hauchdünne Margen akzeptiert, um sich im Wettbewerb um Großaufträge durchzusetzen. Ein Jahr später hatten beim Outsourcing-Dienstleister und Baukonzern Interserve die Gläubiger die Kontrolle übernommen. Ein Debt-to-Equity-Swap scheiterte am Widerstand von Hedgefonds.
Gewinnziel gesenkt
Die damals ebenfalls noch hoch verschuldete Kier schaffte es damals lediglich, knapp zwei Fünftel einer Bezugsrechtskapitalerhöhung bei den Aktionären zu platzieren. Sie wurden damals zu 409 Pence das Stück angeboten. Den Rest verramschten die Konsortialbanken schließlich im beschleunigten Bookbuilding für 360 Pence an institutionelle Investoren. CEO Haydn Mursell wurde gefeuert. Wenig später musste das Unternehmen Bilanzierungsfehler zugeben und sein Gewinnziel senken.
Vor zwei Jahren brachte die Pandemie den Betrieb auf vielen Baustellen zum Erliegen. Das Management verordnete der Belegschaft und sich selbst eine kräftige Kürzung der Bezüge. Der Verkauf der Hausbausparte Kier Living musste angesichts der Marktbedingungen auf Eis gelegt werden. Im zurückliegenden Jahr wurde sie schließlich an Terra Firma abgestoßen, die Private-Equity-Gesellschaft von Guy Hands. Das Misstrauen der Anleger ist geblieben. Die Aktie von Kier notiert bereits seit geraumer Zeit unter 100 Pence.
Dem Abschwung ausgesetzt
Unter den von Bloomberg zusammengetragenen fünf Analystenempfehlungen raten allerdings vier zum Kauf und eine zum Halten. Verkaufsempfehlungen gibt es nicht. Die Argumente der Skeptiker sind klar: Als auf den Heimatmarkt fokussiertes konjunkturabhängiges Unternehmen dürfte Kier den laufenden Abschwung besonders stark zu spüren bekommen, während die Kosten bedingt durch Arbeitskräftemangel, Lieferengpässe und steigende Preise für Materialien wie Holz oder Stahl in die Höhe schießen. Die Gesellschaft machte bei der Bilanzierung in der Vergangenheit häufig von Sonderposten Gebrauch. Zudem griff man gerne auf das seit der Implosion von Greensill Capital ins Gerede gekommene Reverse Factoring zurück. Joint Ventures sorgen für zusätzliche Komplexität.
Höhere öffentliche Ausgaben
Nichtsdestotrotz dürfte die ehemalige FTSE-250-Gesellschaft von wachsenden öffentlichen Ausgaben und zunehmender Regulierung profitieren, insbesondere in Sachen ESG. Die britische Regierung will unter Beweis stellen, dass es sich beim „Levelling-up“ – der Angleichung der Lebensverhältnisse in den britischen Regionen – und dem Streben nach „Net Zero“ nicht nur um leere Worthülsen handelt. Das drückt sich in einer Vielzahl von öffentlichen Ausgabenprogrammen aus. Dazu gehören eine Steigerung der Investitionen in den Straßenbau um 60%, der Bau von 500 neuen Schulen innerhalb eines Jahrzehnts und die Bereitstellung von 20000 neuen Gefängnisplätzen. Die National Infrastructure Strategy der Regierung sieht Ausgaben von 650 Mrd. Pfund in den kommenden zehn Jahren vor. Kier macht annähernd 85% ihres Umsatzes mit Aufträgen aus dem öffentlichen Sektor oder aus regulierten Branchen. Die Firma ist am Bau des Atomkraftwerks Hinkley Point C ebenso beteiligt wie an der Hochgeschwindigkeitstrasse HS2. Dem Brancheninformationsdienst Glenigan zufolge lag das Unternehmen im Ende März abgelaufenen Fiskaljahr beim Auftragseingang mit annähernd 2 Mrd. Pfund auf Platz 2 der Baubranche.
Marge steigt
Doch wie sieht es mit der Fähigkeit aus, Rendite für die Aktionäre zu erwirtschaften? Mittlerweile hat Kier die Kostenbasis weiter reduziert. Dabei wurden 1700 Stellen gestrichen, insbesondere in der IT, der Buchhaltung und im Management. Im Verbund mit Portfoliobereinigungen konnten dadurch jährlich Kosten von 115 Mill. Pfund eingespart werden. Das neue Management hat bei Projekten mehr Disziplin gezeigt. Die Ebit-Marge stieg von 1,2% im Geschäftsjahr 2020 auf 3,0% im Folgejahr. Im ersten Halbjahr 2022 lag sie bei 3,5% und damit auf Höhe des selbst gesetzten Zielwerts. Die Kosten sind im laufenden Jahr stetig gestiegen, allerdings machen dem Unternehmen derzeit keine wesentlichen Lieferengpässe mehr zu schaffen. Dem Management zufolge befindet sich mehr als die Hälfte des Auftragsbuchs entweder unterhalb der angestrebten Kosten oder es handelt sich dabei um Verträge, die es ermöglichen, steigende Kosten an den Auftraggeber weiterzureichen.
Zweistelliges Wachstum
Weil es sich meist um kleine und mittelgroße Projekte handelt, die sich in vergleichsweise kurzer Zeit fertigstellen lassen, kann der Preis mit relativer Gewissheit über die Kostenentwicklung verhandelt werden. Kier will den Umsatz mittelfristig auf 4,0 Mrd. bis 4,5 Mrd. Pfund steigern. Bei der Ebit-Marge wurde der Zielwert bereits erreicht. Solle die Mitte der genannten Spanne erreicht werden, würde sich daraus ein zweistelliges Wachstum des Vorsteuerergebnisses ergeben.
Die Nettoverschuldung hatte Ende Juni 2021 beim 2,9-fachen operativen Ergebnis (Ebitda) gelegen. Der Analyst Adrian Kearsey von Gordon Panmure geht davon aus, dass sie im diesen Monat ablaufenden Geschäftsjahr auf das 1,3-fache Ebitda abgeschmolzen ist und weiter sinken wird. Sein Kollege Joe Brent von Liberum Capital hat ein Multiple von 1,2 angesetzt. Vorsicht ist allerdings angesagt. Öffentliche Aufträge können sich verzögern. Der 1995 vorgeschlagene Tunnel, der die A303 unter Stonehenge hindurchführen sollte, wird wohl so schnell nicht gebaut. Und auch sonst findet sich immer ein Grund für Aktivisten, gegen öffentliche Bauvorhaben zu klagen. Dann kommt es schnell zu Wachstumsstörungen. Die Aktie ist also bestenfalls für Wagemutige geeignet.