Was Evergrande lehrt
Die Schieflage des chinesischen Immobilienentwicklers Evergrande hat an den Märkten Schockwellen rund um den Globus ausgelöst. Dass ein in den volkswirtschaftlichen und finanziellen Folgen weitgehend auf China beschränktes Ereignis solche Wirkung zeigt, belegt die Nervosität der Anleger am möglichen Ende einer nun schon viele Jahre währenden Aufwärtsphase an den Aktienmärkten. Umgehend wurde von Marktbeobachtern die Frage gestellt, ob ein Kollaps von Evergrande nicht ein „Lehman-Moment“ würde, also wie die Pleite der US-Investmentbank im Jahr 2008 eine internationale Banken- und Finanzkrise auslösen könnte. Denn Ursache der Schieflage war ja in beiden Fällen ein spekulativ überhitzter Immobilienmarkt, dessen Abkühlung die waghalsigen Finanzierungen wie Kartenhäuser zusammenfallen ließ.
Doch damit wären die Parallelen auch schon beschrieben. Denn anders als bei Lehman, wo der Kollaps kam, weil die US-Notenbank für viele unerwartet die Reißleine zog, ist die Evergrande-Notlage seit mehr als einem Jahr bekannt. Schon im Juni 2020 berichtete der China-Korrespondent der Börsen-Zeitung über die angespannte Liquidität bei Evergrande und die dadurch ausgelöste Herabstufung im Ratingausblick durch Moody’s von „stabil“ auf „negativ“. Seither steht Evergrande im Fokus der Eigen- und Fremdkapitalgeber wie auch der chinesischen Politik und Regulatoren. Ein Konkurs wäre eine Pleite mit Ansage. Die Regie führt beim Drama um den größten privaten Immobilienentwickler Chinas die Kommunistische Partei, deren Akteure die staatlichen Banken sind. Sie haben es in der Hand, Evergrande zu restrukturieren oder still und leise zu liquidieren. Da in Evergrandes Büchern mehr als 600 000 vorbestellte und in Teilen bezahlte Wohnungen für zwei Millionen Menschen in 200 Städten stehen, dürfte für Peking eine geordnete Abwicklung Priorität haben. Wenn dabei einige chinesische Regionalbanken unter die Räder kommen, hat das für die internationale Anlegerwelt die Relevanz des sprichwörtlichen umgefallenen Sackes Reis in China. Allerdings wird die Anleger der in Hongkong notierten Aktien und der Dollar-Offshore-Anleihen ein blaues Auge daran erinnern, dass sie in einen Titel investiert haben, der schon seit einem Jahr die von der Zentralregierung genannten drei roten Linien für die Bilanzrelationen von Immobilienentwicklern deutlich gerissen hatte, die da heißen: Liability/Asset-Ratio, Net-Debt/Equitiy-Ratio und Cash/Short-Term-Debt-Ratio.
Damit sind wir bei den Lehren, die Anleger aus dem Evergrande-Debakel ziehen sollten. Erstens: Den großen Chancen in boomenden Märkten – und der chinesische Immobilienmarkt ist das seit Jahren – stehen nicht weniger große Risiken gegenüber. Zweitens: Unternehmen, die dauerhaft gegen die vom Staat oder vom Markt gesetzten Regeln verstoßen, werden am Ende bestraft und selten überleben. Drittens: Die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt ist im Tagesgeschäft zwar kapitalistisch organisiert, doch China ist kein Rechtsstaat. Investoren sollten daher nicht nur nach Kurs-Gewinn- und Kurs-Buchwert-Verhältnissen oder Wachstumsraten schauen, sondern mindestens ebenso intensiv nach der Agenda der Kommunistischen Partei und den Direktiven und Signalen ihres Generalsekretärs Xi Jinping.