Brüssel erwartet nur Mini-Wachstum
ba Frankfurt
Die EU-Kommission erwartet wegen der Energiekrise infolge des Ukraine-Kriegs nur noch ein schmales Wachstum der Euro-Wirtschaft im kommenden Jahr. Zudem dürfte die Inflation deutlich höher ausfallen als noch in der Sommerprognose vorausgesagt. Der Arbeitsmarkt soll im Prognosezeitraum bis 2024 derweil robust bleiben und das Staatsdefizit ebenso wie die Schuldenquote zurückgehen. Die Wirtschaftsaussichten blieben allerdings von einem „außergewöhnlichen Maß an Unsicherheit umgeben“, betonte die EU-Kommission bei der Vorstellung der Herbstprognose. Als Risiken gelten neben dem Fortgang des Ukraine-Krieges die Gasversorgung, weitere Schocks auf den Rohstoffmärkten infolge geopolitischer Spannungen sowie eine länger anhaltende Inflation.
In dieser steht für das Bruttoinlandsprodukt im kommenden Jahr ein Plus von 0,3% – im Sommer hatte die Brüsseler Behörde noch ein Wachstum von 1,4% avisiert (siehe Grafik). „Die Wirtschaft in Europa steht an einem Wendepunkt“, erklärte EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni in Brüssel. Denn im ersten Halbjahr habe das Wachstum positiv überrascht, da die privaten Haushalte nach dem Wegfall der Corona-Restriktionen die Ausgaben insbesondere für Dienstleistungen kräftig gesteigert hätten. Daher dürfte das BIP im Gesamtjahr 2022 um 3,2% zulegen, deutlich stärker als im Sommer noch mit 2,6% vorausgesagt. Im Schlussquartal 2022 allerdings dürften die EU, die Euro-Wirtschaft und die meisten Mitglieder des gemeinsamen Währungsraums in eine Rezession rutschen. Ursächlich seien die erhöhte Unsicherheit, der hohe Druck auf die Energiepreise, der Kaufkraftverlust der Haushalte, das schwächere außenwirtschaftliche Umfeld und restriktivere Finanzierungsbedingungen, erklärte die EU-Kommission. Auch Anfang 2023 dürfte das BIP noch schrumpfen. Die Inflation, die kräftig an der Kaufkraft der Verbraucher zehrt, dürfte ihren Höhepunkt Ende dieses Jahres erreichen. Aktuell liegt die Jahresteuerungsrate auf dem Rekordwert von 10,7% – gut fünfmal so hoch wie das Preisziel der Europäischen Zentralbank (EZB).
Für den Jahresschnitt prognostiziert die EU-Kommission nun 8,5% und damit fast einen Prozentpunkt mehr als noch im Sommer. Für 2023 erwartet die Kommission eine Teuerungsrate von 6,1%, das entspricht einer Aufwärtsrevision um mehr als 2 Prozentpunkte. Dabei würden die Korrekturen „hauptsächlich deutlich höhere Großhandelspreise für Gas und Strom widerspiegeln“, die für Preisdruck beim Verbraucher bei Energie sowie den meisten Waren und Dienstleistungen im Warenkorb ausüben würden, begründet die EU-Kommission.
Unter den größten Euro-Volkswirtschaften ist Deutschland das Schlusslicht – 2023 dürfte das BIP um 0,6% schrumpfen, erwartet die EU-Kommission. Zuvor hatte sie noch ein Wachstum von 1,3% vorausgesagt. Allein Lettland (–0,3%) sowie Schweden (–0,6%) werden gleichfalls ins Minus rutschen, alle anderen Volkswirtschaften dürften zulegen – allen voran Irland (+3,2%). In diesem Jahr traut die Brüsseler Behörde der hiesigen Wirtschaft ein Plus von 1,6% zu und damit etwas mehr als zuvor mit 1,4% vorausgesagt. Als Abwärtsrisiko gelten Verzögerungen bei der Diversifizierung der Energieversorgung und beim Erreichen der Energiesparziele, die zu Engpässen und einem Wiederaufflammen der Energiepreisinflation im Winter 2023/24 führen könnten.
Zuversichtlich zeigte sich Gentiloni trotz des schwierigen Umfelds für den Arbeitsmarkt. Die Lage sei so robust wie seit Jahrzehnten nicht mehr und dürfte sich kaum ändern. Die Arbeitslosenquote in der Eurozone, die aktuell auf dem Rekordtief von 6,6% liegt, werde in diesem Jahr bei 6,8% liegen und 2023 auf 7,2% steigen.