Asylreform

Europäischer Zankapfel Immigrations­politik

Während die Flüchtlingszahlen in den letzten Monaten wieder stark gestiegen sind, gehen die Meinungen über die Asyl- und Migrationspolitik in Europa auseinander. Für Spanien hat das Thema oberste Priorität, wenn es im zweiten Halbjahr den EU-Ratsvorsitz übernimmt.

Europäischer Zankapfel Immigrations­politik

Der starke Anstieg der Flüchtlingszahlen lässt das Thema Immigrations- und Asylpolitik wieder verstärkt in den Fokus rücken. Über die Frage, wie die Migration in Europa besser gesteuert und Asylbewerber besser verteilt werden können, streiten die Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) schon seit Jahren. Auch innerhalb der einzelnen Länder sorgt das Thema für Unstimmigkeiten, da Populisten und Extremisten vielerorts auf eine Verschärfung dringen. Nun steigt angesichts der im Frühjahr 2024 anstehenden Europawahlen der Druck, eine Einigung auf europäischer Ebene zu erzielen. Für Spanien, das im zweiten Halbjahr die EU-Präsidentschaft übernimmt, hat das Thema oberste Priorität.

Nachdem die während der Flüchtlingskrise 2015/16 angestrebten Quoten für die Verteilung von Flüchtlingen gescheitert waren, hatte EU-Kommissarin Ylva Johansson im September 2020 einen neuen Migrations- und Asylpakt vorgeschlagen. Seitdem ist die Zahl der Flüchtlinge wieder stark gestiegen. So wurden 2022 in den 27 Mitgliedstaaten der EU nach Angaben von Eurostat 881200 Erstanträge auf Asyl gestellt, 64% mehr als 2021. Darin nicht mitgezählt sind die 4,3 Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine, da sie kein Asyl beantragen müssen. Die vor allem von Syrern, Afghanen, Venezolanern und Türken gestellten Asylanträge fielen 2022 im Vergleich zu der großen Fluchtbewegung 2015 und 2016 niedriger aus, denn in beiden Jahren betrugen die Erstanträge jeweils mehr als eine Million.

Spanien hat sich nun vorgenommen, unter seiner EU-Präsidentschaft den Pakt zur europäischen Asyl- und Migrationspolitik in trockene Tücher zu bringen. „Eine der Prioritäten der spanischen Ratspräsidentschaft ist, dass wir alle regulatorischen Fragen in Sachen Migration und Asyl abschließen. Wir hoffen, dass dies gelingt, und arbeiten bereits daran“, erklärte Innenminister Fernando Grande-Marlaska.

Streitpunkt Grenzmauern

Bei der geplanten EU-Reform geht es unter anderem um Änderungen am sogenannten Dublin-System: Demnach sind jene EU-Staaten für Asylverfahren zuständig, in denen Geflüchtete ankommen. Das belastet Länder an den Außengrenzen der EU stark, weil hier besonders viele Menschen auf der Flucht zum ersten Mal den Boden der Europäischen Union betreten. So machen Asylbewerber nach Angaben des Innenministeriums von Zypern inzwischen 5% der Bevölkerung der Insel aus.

Der zuständige Ausschuss des Europaparlaments hat nun seine Linie zu dem gesamten Asylpaket festgelegt – und damit den Weg für Verhandlungen mit den Mitgliedsländern geebnet. Ziel ist, die Verhandlungen bis Jahresende abzuschließen, damit die Gesetze noch vor der Europawahl beschlossen werden können.

Allerdings dürften sich die Verhandlungen schwierig gestalten. Die Positionierung der EU-Staaten steht in wesentlichen Punkten aus. Das Thema schafft es wegen seiner Brisanz regelmäßig auf die Agenda von EU-Gipfeln, ohne dass es entscheidende Fortschritte gibt – zu weit liegen die Vorstellungen der 27 EU-Staaten auseinander.

Einer der wenigen Punkte, bei denen weitgehend Einigkeit herrscht, ist ein neues Screening-Verfahren. Es soll die Identität aller Einreisenden lückenlos erfassen. Ansonsten gibt es viele Streitpunkte: Über eine gerechtere Verteilung Geflüchteter gehen die Meinungen ebenso auseinander wie über die Grenzsicherung.

Mancherorts wollen Regierungen Zäune und andere Grenzanlagen bauen und dafür Geld aus Brüssel einsetzen – ein Vorhaben, gegen das sich gerade besonders heftiger Widerstand regt. Deutschland, aber auch Spanien, Belgien und Frankreich sind dagegen. Die Befürworter mit EU-Fördermitteln errichteter Grenzmauern – Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn – können jedoch auf die Unterstützung Italiens, Griechenlands und Österreichs bauen.

In den letzten Jahren sind in Europa bereits Mauern und Grenzzäune mit einer Länge von 1700 Kilometern neu entstanden. Auch die beiden spanischen Enklaven in Marokko, Ceuta und Melilla, sind von massiven Schutzzäunen umgeben, die jedoch Migranten aus Afrika und anderen Regionen nicht vom Versuch abhalten, europäischen Boden zu erreichen. Das Land im Südwesten Europas, das als einziges EU-Mitglied eine Landgrenze zu Afrika besitzt, setzt verstärkt auf die Zusammenarbeit mit seinem Nachbarn Marokko. Ministerpräsident Pedro Sánchez hat vor einem Jahr eine überraschende Kehrtwende in der spanischen Außenpolitik vollzogen und sich im jahrzehntealten Konflikt um die Westsahara auf die Seite Marokkos geschlagen. Im Gegenzug versprach Rabat, mehr dafür zu tun, dass keine Migranten aus dem Land nach Spanien übersiedeln. Viele sterben auf der gefährlichen Seeroute zu den Kanaren.

Die EU stellt Marokko aber auch Geld zur Verfügung. Der Kommissar für Erweiterung und Europäische Nachbarschaftspolitik, Olivér Várhelyi, kündigte bei einem Besuch in Rabat vor drei Wochen neue Hilfen von 624 Mill. Euro an. Davon sind 152 Mill. Euro für die Migrationspolitik bestimmt. Der Deal erinnert ein wenig an das Abkommen mit der Türkei, in dem der Schutz der EU-Außengrenzen praktisch an ein Nachbarland ausgelagert wird.

Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni plädiert ebenfalls für Abkommen mit nordafrikanischen Ländern. Außerdem fordert sie Hilfen für Tunesien trotz der demokratischen Defizite und fehlender Reformen in dem Land. Italien könne die Flüchtlingswelle allein nicht stoppen, argumentiert sie. Seit Beginn des Jahres sind 27000 Flüchtlinge auf dem Seeweg aus der Türkei oder aus Nordafrika nach Süditalien gelangt – viermal so viele wie 2022. Und weitere 900000 stünden, so Meloni, allein in Tunesien bereit, um sich im Fall eines Zusammenbruchs des dortigen Regimes auf den Weg zu machen. Unterstützung erhielt Meloni gerade von Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron, der ebenfalls an die europäischen Partner appellierte, Tunesien zu helfen, um den Strom der Migranten zu stoppen.

Wirkungsvolle Kooperation

Ein Blick nach Spanien zeigt, dass eine Zusammenarbeit mit nordafrikanischen Ländern – in dem Fall Marokko – zu wirken scheint. Im letzten Jahr ist die Zahl der Menschen, die ohne geregelte Papiere in Spanien einreisen wollten, gegenüber dem Vorjahr um 25,6% gesunken. Diese Politik hat jedoch auch hässliche Folgen. Als im Juni letzten Jahren Hunderte Migranten die Grenze zu Melilla stürmten, gingen die marokkanischen Sicherheitsbehörden extrem hart vor. Es gab mehrere Dutzend Tote, wobei die genaue Zahl unbekannt ist.

Auch die Flüchtlingspolitik Italiens führt immer wieder zu menschlichen Tragödien. Das Land hat einseitig Maßnahmen verabschiedet, die Rettungsschiffen die Arbeit erschweren. Dennoch weist Meloni die Verantwortung für das Migrantenunglück vor der Küste Kalabriens mit mindestens 88 Toten Ende Februar von sich. „Mein Gewissen ist absolut rein“, sagte sie bei einer Fragestunde im Parlament. Als in jener Nacht ein Migrantenboot mit mehr als 170 Menschen an Bord sank, rückte die Küstenwache erst spät aus, weil ihr nach Angaben der Ministerpräsidentin keine Notlage gemeldet worden war.

Italiens Regierungschefin drängt die EU seit Monaten, Flüchtlinge auch durch einen effektiven Grenzschutz daran zu hindern, europäischen Boden zu betreten. Sie plädiert zudem für Änderungen beim Verteilungsschlüssel. Eine Einigung mit den EU-Partnern zeichnet sich nicht ab. Mit Frankreich legt sich das Land wegen der Flüchtlingsthematik regelmäßig an. Im November hatten beide tagelang darum gerungen, wo das Rettungsschiff „Ocean Viking“ anlegen durfte. Nachdem italienische Behörden das Festmachen verweigert hatten, durfte es schließlich den Hafen im französischen Toulon anlaufen.

Nach dem Streit hat Frankreich die Kontrollen an den Grenzen zu Italien verstärkt. Innenminister Matteo Salvini warf dem westlichen Nachbarn deshalb gerade vor, Migranten abzuweisen, aber italienische Terroristen, die eigentlich in italienischen Gefängnissen sitzen müssten, zu behalten. Damit spielte er auf die Entscheidung des französischen Kassationshofes an, ehemalige Mitglieder der Roten Brigaden nicht nach Italien auszuliefern. Dabei nimmt Italien, vor allem im Vergleich zur Bevölkerungszahl, deutlich weniger Flüchtlinge auf als viele andere Länder. So betrug die Zahl der Erstanträge von Asylbewerbern 2021 in Italien je 100000 Einwohner gerade mal 76, in Frankreich dagegen 153.

Arbeitskräfte gesucht

Salivini und Premierministerin Meloni spielen ein populistisches Spiel, mit dem sie bei den Bürgern punkten wollen. Nach außen lassen sie die Muskeln spielen und sprechen von einem „Angriff auf Italien“. In Wirklichkeit reichen sie die ankommenden Flüchtlinge aus dem Süden, die nur selten in Italien bleiben wollen, nach Nordeuropa weiter: nach Österreich, Deutschland oder in die Niederlande.

Meloni steht aber unter massivem Druck der Wirtschaft, die auf mehr legale Einwanderung dringt. Sie will deshalb bis 2025 eine halbe Million illegal Eingereister legalisieren. Denn die italienische Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ist zwischen 2018 und 2021 um 636000 geschrumpft. Zudem lehnen viele Italiener schlecht bezahlte Jobs in der Landwirtschaft, der Gastronomie, im Hotelwesen oder in der Pflege ab. Den Branchenverbänden zufolge fehlen allein der Landwirtschaft jährlich 100000 Arbeitskräfte, der Gastronomie 140000 und dem Hotelgewerbe 260000.

Eine spezielle, zeitlich begrenzte Aufenthaltsgenehmigung für Einwanderer ohne gültige Papiere, die an die Arbeit in Berufszweigen gekoppelt ist, die Schwierigkeiten haben, Arbeitskräfte zu finden, sieht auch die von Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron geplante Reform des Immigrationsrechts vor. Damit versucht er den Spagat, es sowohl den konservativen Republikanern, von denen ein Teil bei dem Thema Immigration immer radikalere Positionen vertritt, als auch der Linken, die auf die Menschenrechte verweist, recht zu machen. Keine der beiden Seiten ist jedoch zufrieden mit dem vorgeschlagenen Projekt, das ihnen entweder zu weit oder nicht weit genug geht.

Wegen der durch die Rentenreform ausgelösten Krise hat Macron jetzt angekündigt, die Reform in mehrere Gesetzentwürfe aufspalten und dem Parlament quasi häppchenweise vorlegen zu wollen. Neben der Beschleunigung von Asylverfahren sieht es auch vereinfachte Abschiebeverfahren für straffällige Migranten vor.

Während der Arbeitgeberverband Medef eine an Arbeitsplätze in bestimmten Berufszweigen gekoppelte Aufenthaltsgenehmigung be­fürwortet, kritisieren Konservative und Vertreter des rechtsextremen Rassemblement National, dass dadurch neue Anreize für die Einwanderung nach Frankreich geschaffen würden. Migranten machen inzwischen 10,3 % der Bevölkerung in Frankreich aus. 47,5 % von ihnen stammen aus Afrika, vor allem aus Algerien, Marokko und Tunesien, 33,1 % aus Europa und 13,6 % aus Asien.

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