Wertpapierhandel

Neue Modelle setzen klassischen Börsen zu

Die Neobroker setzen seit ihrem Einstieg in den Wertpapierhandel den klassischen Handelsplätzen wie Frankfurt und Stuttgart stark zu.

Neue Modelle setzen klassischen Börsen zu

Der Einstieg der sogenannten Neobroker in den Wertpapierhandel hat seit 2019 die deutsche Börsenwelt kräftig durcheinandergewirbelt – insbesondere zulasten der klassischen Handelsplätze wie Frankfurt oder Stuttgart. Nicht von ungefähr spricht der Vorstandschef des Münchner Marketmakers Baader Bank, Nico Baader, davon, dass das klassische Handelsmodell der Parkettbörsen zu einem Auslaufmodell zu werden droht. Tatsächlich steht infrage, ob für die Arrivierten eine Trendumkehr ohne die Partnerschaft mit einem Neobroker wie Trade Republic, Finanzen.net Zero oder Scalable gelingen kann. Die Frage ist aber auch, wie weit der Markt denn bereits ausgereizt ist – erst recht in Zeiten wie diesen, in denen sich das Orderaufkommen im Vergleich zu den Vorjahren nahezu halbiert hat. Als sich vor drei Jahren jene Fintechs, die man Low-Cost- oder Neobroker nennen sollte, aufmachten, die etablierten Börsen das Fürchten zu lehren, konnte noch keiner ahnen, dass deren Vorstellung von börslichen Handelsmodellen zu einem Erfolgsstandard der Branche werden sollte. Diese setzt sich aus einem Trio von Neobroker, Marketmaker und Börse zusammen, die in einem fein austarierten Verhältnis zueinander stehen. Die Basis des Geschäfts der Neobroker sind Rückvergütungen, sogenannte Kickbacks, die der Market­maker für den Orderflow eines Neobrokers an diesen bezahlt.

„Der Retail-Orderflow hat einen Wert, den wir an die Kunden weitergeben“, sagt Christian Hecker, Gründer und CEO von Trade Republic in Berlin. Das auf europäischer Ebene immer noch umstrittene Payment for Orderflow (PFOF) lässt damit die Handelskosten für den Anleger gegen null gehen. Trade Republic beispielsweise nimmt gerade mal 1 Euro pro Wertpapierorder von seinen Kunden. Dafür bekommt der Neobroker pro 100 Euro Umsatz „einen kleinen, einstelligen Cent­betrag“ vom Marketmaker Lang & Schwarz, wie Hecker erläutert. Ausgeführt werden die Orders an der gleichnamigen, eigens geschaffenen Lang & Schwarz Exchange (LSX), formal ein elektronisches Handelssystem der Börse Hamburg. Explizite Kosten wie Börsenentgelt und Courtage entfallen für den Endkunden. Was aber bleibt für die Börse am Ende hängen? „Der Marketmaker zahlt marktübliche Entgelte für die Nutzung des Handelsplatzes“, versichert Thomas Ledermann, Ge­schäftsführer der Börse Hamburg.

„Mit unserem Angebot haben wir als Vorreiter vor drei Jahren den Börsenhandel im Retailsegment revolutioniert“, so Hecker. Daher kann das Geschäftsmodell auch als Attacke gegen die klassischen Börsen und traditionellen Broker gewertet werden, wo eine ausgeführte Order schnell mehr als 10 Euro kosten kann. Im Kern sind die drei existierenden elektronischen, entgeltfreien Handelsplätze alle nach dem Dreiklang aus Broker, Börse und Marketmaker aufgebaut. Neben der LSX existiert mit Gettex an der Börse München dasselbe Geschäftsmodell. Als Broker fungiert dort Finanzen.net Zero, ehemals Gratisbroker. Marketmaker ist die Baader Bank, weshalb manche schon von der „Baader-Börse“ reden. Ein weiteres Modell dieser Art gibt es mit Tradegate in Berlin. Dabei ist das System stets davon abhängig, inwieweit der beteiligte Marketmaker mehr Ertrag generieren kann, als ihn die Rückvergütungen an den Neobroker kosten. „Die Qualität des Platzes hängt damit stark an der Kompetenz des Marketmakers“, sagt Carsten Lütke-Bornefeld, Chefhändler der Düsseldorfer Lang & Schwarz Tradecenter, in eigener Sache.

Etwas anders gelagert ist die Sache bei der Berliner Tradegate Exchange, die schon seit ihrer Gründung 2001 keine Handelsgebühren nimmt und seit 2009 das Börsensiegel trägt. Dadurch hat sich der Handelsplatz nach den Best-Execution-Regeln gemäß der EU-Finanzmarktrichtlinie Mifid II in den Rankings der Banken nach vorne geschoben, vor allem bei der Deutschen Wertpapierservice Bank (DWP), die Orders für fast alle Sparkassen und die Hälfte der Privatbanken an die Börse routet. Die Nutzung von Tradegate ist unentgeltlich. Weil es aber nirgendwo ein „free lunch“ gibt, wie ein Börsianer sagt, wird über den Spread bei dem gleichnamigen Marketmaker Tradegate AG Wertpapierhandelsbank verdient, die ebenso wie die Deutsche Börse knapp 43% an der Plattform hält. Der Rest gehört der Berliner Börse. Neben Tradegate, die mittlerweile klar die Nummer 2 unter Deutschlands Börsenplätzen nach der Profi-Plattform Xetra ist, führt die klassische Börse Berlin ein Schattendasein. Mit einem Handelsvolumen von 245 Mrd. Euro per Oktober 2022 über sämtliche Gattungen hinweg hat sich Tradegate längst etabliert als größte Privatanlegerbörse im Land. Ihren jüngsten Coup feierten die Berliner im August 2021, als sie eine Partnerschaft mit FlatexDegiro eingingen, die Anlegern aus 18 Ländern den Zugang zu Tradegate verschafft hat.

Gettex auf der Überholspur

Wie sehr klassische Börsenplätze Marktanteile an eine „Neobörse“ verlieren können, wird beispielhaft im börslichen Derivatehandel klar. Betrachtet man allein die Anzahl der ausgeführten Kundenorders, so hat die Münchner Gettex nach Zahlen des Deutschen Derivate Verbands (DDV) im Oktober erstmals mit einem Anteil von 43,3% gegenüber dem Platzhirsch Stuttgart knapp die Nase vorn, während die Frankfurter Wertpapierbörse (FWB) nur auf 14,2% Marktanteil kam. Bei einer Sortierung nach Volumina behauptet die Börse Stuttgart allerdings mit einem Anteil von 62,9% die Führung in ihrem Kerngeschäft des Handels mit verbrieften Derivaten.

Auffallend ist, dass mit Tradegate, der LSX sowie Gettex gleich drei Handelsplattformen, alle mit Börsensiegel, just diejenigen klassischen Handelsplätze nahezu marginalisiert haben, an denen sie angesiedelt sind. Beobachter sprechen auch von Kannibalisierung. Zwar machen die Börsen Hamburg und München, aber auch Düsseldorf und Hannover seit jeher ein Geheimnis um ihre Umsätze. Doch nach allem, was zu hören ist, übertreffen die Umsätze der Handelsplätze mit Neobrokern, LSX und Gettex sowie Tradegate, die jeweiligen Parallelveranstaltungen der arrivierten Börsen um ein Vielfaches. An Düsseldorf, wo bei der 2001 geschaffenen Plattform Quotrix ein Neobroker hätte andocken können, ist die Entwicklung wohl vorübergegangen.

Spannend ist nun die Frage, wie die klassischen Börsen mit substanziellen Umsätzen, Stuttgart und Frankfurt, auf die Situation reagieren werden. Zumindest Stuttgart probt bereits seit Jahresfrist den Flirt mit den Neobrokern. „Wir arbeiten daran, unsere etablierten Angebote sinnvoll zu ergänzen – mit Blick auf Handels- und Gebührenmodelle und in der für uns gebotenen Qualität“, sagt dazu Matthias Voelkel, CEO der Gruppe Börse Stuttgart, auf Anfrage. Hierzu seien Neuerungen für unterschiedliche Assetklassen „auf der Zielgeraden“, kündigt er an. Denn wie es die Spatzen bereits von den Stuttgarter Börsendächern pfeifen, ist der schwäbische Handelsplatz schon seit Längerem dabei, unter dem Namen „Trade Rebel“ nach den Vorbildern von LSX oder Gettex eine Plattform aus dem Boden zu stampfen, über die auch entgeltfrei gehandelt werden soll. Insgesamt 4000 Aktien und ETFs sollen dem Vernehmen nach auf dem Kurszettel stehen. Wie Voelkel weiter sagt, ist die Zusammenarbeit der Börse Stuttgart mit Neobrokern „ein klares Ziel“. Dies gelte nicht nur für exklusive Partnerschaften. „Wir sind auch offen, wenn sich ein Neobroker zusätzlich an einen weiteren Handelsplatz anschließen möchte – etwa vor dem Hintergrund von Handelsstabilität und möglichen Interessenkonflikten“, so der Stuttgarter Börsenchef. Von anderer Seite wird Stuttgart mit der Digitalbank N26 mit Sitz in Berlin in Verbindung gebracht, die noch kein Wertpapiergeschäft hat.

„Markt längst verteilt“

„Ein unglückliches Timing“, sagt Lütke-Bornefeld von Lang & Schwarz über den Spätstart der Stuttgarter. In der Tat dürfte es nicht billig sein, just dann ein neues Handelsmodell etablieren zu wollen, wenn sich Order- und Umsatzzahlen innerhalb eines Jahres halbiert haben. „Wer jetzt noch einsteigt und einen Neobroker als Partner gewinnen will, muss tiefe Taschen haben“, sagt dazu ein anderer, langjähriger Beobachter der Börsenlandschaft. „Der Markt ist längst verteilt“, meint Lütke-Bornefeld. Durch den harten Wettbewerb seien die Preisunterschiede zwischen den Handelsplätzen marginal. Die Frage wird also sein, inwieweit es Stuttgart schaffen kann, mit Partnern einen eigenen Orderflow generieren zu können. Und sollte das gelingen, wäre es Sache des Marketmakers, der eigentlich nur die börseneigene Brokergesellschaft Euwax AG sein kann, die Orders aufs eigene Buch zu nehmen, um daraus Gewinne zu generieren.

Während Stuttgart also mit den Neobrokern flirtet, fremdelt Frankfurt etwas mit den Orderflow-Providern. Kern der Frankfurter Kritik ist die fehlende Neutralität bei einem Börsenmodell, das einen Marktteilnehmer mit Payment for Orderflow bedenkt. Die FWB bietet dagegen nach eigenen Worten mit den Handelsplätzen Xetra und Börse Frankfurt einen neutralen Handel mit Fokus auf die Preisfindungsfunktion und Preisqualität an. „Zahlungen an Retailbanken werden nicht unterstützt“, heißt es seitens der FWB. Aus deren Sicht hat sich der aktuelle Wettbewerb um Retail-Orderflow auf die Höhe der Zahlung (PFOF) an die Retailbank, also den Neobroker, verschoben und findet nicht mehr auf der Ebene der Verbesserung der Ausführungspreise statt. Profiteur dieser Entwicklung sei allein die Retailbank. „Ein genereller Mehrwert für Privatanleger ist aus unserer Sicht hierdurch nicht gegeben“, heißt es. Eher sei zu erwarten, dass die schwer nachvollziehbaren impliziten Kosten die sonst üblichen expliziten Kosten übersteigen. „Eine erweiterte Zu­sammenarbeit mit einem bestimmten Handelsteilnehmer wird vor diesem Hintergrund nicht angestrebt, da sie den Neutralitäts- und Gleichbehandlungsgrundsätzen der FWB entgegenstehen würde“, heißt es auf Anfrage. Unabhängig davon arbeite die Deutsche Börse bzw. die FWB als liquidester Handelsplatz für Aktien in Deutschland mit allen relevanten Kundengruppen eng zusammen – „dazu zählen auch sogenannte Neobroker, die die hohe Qualität, Transparenz, Fairness und Neutralität im Handel schätzen“, sagt FWB-Geschäftsführer Michael Krogmann.

Bei Neobroker-Modellen, die maßgeblich auf PFOF basieren, fänden die Handelsplätze aus den beschriebenen Gründen hingegen keine Berücksichtigung, schreibt die FWB ergänzend. Dennoch überprüfe man grundsätzlich auch die Effizienz eines entgeltfreien Handelsmodells. Dies sollte jedoch nach Vorstellung der Börse einen klaren Mehrwert für den Privatanleger bieten, ohne Einschränkungen bei der Preisqualität. In der aktuellen deutschen Wettbewerbsstruktur mit PFOF erachtet die FWB einen Wettbewerbseffekt durch einen reinen Entgeltverzicht jedoch als fraglich.

Von Thomas Spengler, Stuttgart

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