VW warnt vor Entkopplung von China
Von Carsten Steevens, Hamburg
Volkswagen warnt vor dem Hintergrund geopolitischer Spannungen und sich ändernder politischer Strategien zur Verringerung von Abhängigkeiten vor einer Entkopplung der europäischen und deutschen Wirtschaft von China. China und seine Beziehungen zur Welt veränderten sich, und die europäische China-Strategie müsse sich anpassen. „Entkoppelung kann aber nicht die Antwort auf die Probleme des 21. Jahrhunderts sein“, betont Ralf Brandstätter, im Konzernvorstand von Europas größtem Autobauer seit vergangenem Sommer für das China-Ressort verantwortlich, vor Journalisten in Berlin. Man müsse gerade jetzt im Austausch bleiben. Enge wirtschaftliche Beziehungen würden dabei helfen.
Ringen um Marktanteil
Volkswagen ringt darum, auch im E-Mobilitätszeitalter eine führende Rolle im weltgrößten Automarkt einzunehmen. Mit einem Marktanteil von mehr als 15% sehen sich die Wolfsburger in China weiterhin an erster Stelle, wobei im vergangenen Jahr allerdings ein Anteil von 14,4% allein auf Fahrzeuge mit konventionellem Verbrennerantrieb entfiel. Andere, nicht zuletzt chinesische Hersteller drohen VW im Übergang zu digitalisierten Elektrofahrzeugen den Rang abzulaufen. Zugleich schrumpfen die Fahrzeugauslieferungen des Mehrmarkenunternehmens in China.
In einem 2022 um rund 300000 auf 21 Millionen Fahrzeuge zumindest noch leicht gewachsenen Gesamtmarkt gingen mit 3,18 Millionen insgesamt 3,6% weniger Fahrzeuge des VW-Konzerns an Kunden in China als im Jahr zuvor. Der Rückgang resultiere aus den pandemiebedingten Lockdowns, die die Joint-Venture-Hauptwerke Schanghai und Changchun betroffen hätten, sowie aus Lieferengpässen etwa bei Halbleitern, so Brandstätter. Zudem waren Handelsbetriebe geschlossen, so im Dezember zeitweise rund 70% aller Autohäuser. „Wir konnten im Jahresverlauf nicht genug Fahrzeuge produzieren und ausliefern, um die hohe Kundennachfrage zu decken.“ Bereits in den Jahren 2021 und 2020 waren die Auslieferungen des VW-Konzerns in China um gut 14% auf 3,30 Millionen bzw. um 9,1% auf 3,85 Millionen Fahrzeuge geschrumpft.
Mit rund 3,2 Millionen lieferten die Wolfsburger aber auch im vergangenen Jahr knapp 40% (38,5%) ihrer weltweit verkauften Fahrzeuge im Reich der Mitte aus. Davon entfielen gerade 206000 (+37,1%) auf Plug-in-Hybrid- und Elektrofahrzeuge (New Energy Vehicles) – ein Anteil von 6,5%. Auch einen Großteil des Ergebnisses erwirtschaftet Volkswagen in China, womit ein erheblicher Teil des zur Ausrichtung auf Elektromobilität und Digitalisierung benötigten Kapitals verdient wird. Brandstätter verweist auf die Aussichten für die Autoindustrie in China. Für 2023 geht man bei VW derzeit abhängig vom weiteren Verlauf der Coronakrise und den Folgen der chinesischen Öffnungspolitik auf Konsum und Lieferketten von einem um 4 bis 5% auf rund 23 Millionen Fahrzeuge wachsenden Gesamtmarkt aus. Dabei soll sich der Anteil der E-Fahrzeuge am Gesamtmarkt von 25 auf 30% erhöhen.
Bis 2030 werde der Markt voraussichtlich auf bis zu 30 Millionen Fahrzeuge wachsen, so Brandstätter weiter. „Dieses Wachstum ist alleine dreimal so groß wie der gesamte deutsche Automarkt.“ Nirgendwo sonst gebe es ein solches Wachstumspotenzial. Zugleich entstünden in China in hohem Tempo Zukunftstechnologien wie das smarte Elektroauto, das vernetzte und selbstfahrende „Intelligent Connected Vehicle“ (ICV), die weltweit Maßstäbe setzten. Daher bleibe China für die internationale Autoindustrie und auch für VW ein entscheidender Markt.
„Nicht blauäugig sein“
Der 54 Jahre alte Braunschweiger, der seit 1993 für den VW-Konzern arbeitet und vor seinem Wechsel nach Peking vier Jahre die wichtige Volumenmarke Volkswagen Pkw führte, konzediert, man dürfe in den Beziehungen zu China nicht blauäugig sein. Bestehende Abhängigkeiten zu verringern, sei „politisch, wirtschaftlich und unternehmerisch vernünftig“. Das gelte auch für den VW-Konzern, der sich mit einer Lokalisierungstiefe von mehr als 90% in der Region weitestgehend unabhängig von internationalen Lieferketten sieht. „Was den technischen Bereich angeht, werden wir perspektivisch sicher von unserer ,China für China‘-Strategie profitieren, erklärt Brandstätter, der auch darauf hinweist, dass der Wolfsburger Konzern global weiter diversifizieren und etwa in Nordamerika 7,1 Mrd. Dollar bis 2027 investieren werde. Gleiches gelte auch für den Bezug von Rohstoffen, für den Volkswagen im vergangenen Sommer eine Grundsatzvereinbarung mit Kanada getroffen hatte. Im Raum steht – anders als in China – der Bau einer eigenen Batteriezellfabrik in Nordamerika.
Nicht nur finanziell, sondern auch technologisch hätte eine Entkopplung nach Ansicht des VW-China-Vorstands schwerwiegende Folgen. Viele chinesische Unternehmen profitierten derzeit von dem Plan der Regierung in Peking, weltweit führend bei der Entwicklung der nächsten, intelligenten E-Auto-Generation zu werden. „Noch agieren wir in China aus einer Position der Stärke“, erklärt Brandstätter. „Wenn wir diese aufgeben, ergeben wir uns dem chinesischen Wettbewerb. VW wie die gesamte deutsche Autoindustrie müssten jetzt technologisch dagegenhalten, auch um die eigene weltweite Position im Wettbewerb mit chinesischen Anbietern halten zu können. „Ich bin fest davon überzeugt, dass unsere Abhängigkeiten technologisch und wirtschaftlich eher steigen als abnehmen, wenn wir unsere Position auf dem größten Automobilmarkt der Welt absichtlich schwächen würden“, betont Brandstätter.
Mehr Tempo nötig
Mit Blick auf den Konflikt Chinas mit Taiwan fügt er hinzu, alle seien sich des hohen Risikos bewusst. „Wir sehen im Moment eher, dass alle Beteiligten an Deeskalation interessiert sind und weniger an einer Eskalierung.“ VW will in China künftig auch bei den intelligenten E-Fahrzeugen eine führende Rolle spielen. Entscheidend dafür sei Geschwindigkeit in Entscheidungen und der technischen Entwicklung, sagt der China-Vorstand und verweist auf eine „extrem hohe“ Veränderungs- und Innovationsgeschwindigkeit“ des Marktes. VW wolle die Herausforderung annehmen. Brandstätter kündigt an, unter Berücksichtigung der Qualitätsansprüche die Geschwindigkeit zu erhöhen, um neue E-Autos zu entwickeln. Derzeit benötige man fast vier Jahre, um ein neues Produkt auf die Straße zu bringen, chinesische Unternehmen bräuchten hingegen nur gut zweieinhalb Jahre.