Chinesischer Volkskongress

Armutszeugnis

Die Regierung in Peking ruft den Sieg bei der Armutsbekämpfung aus. Bei genauerem Hinsehen hapert es aber noch an vielen Ecken. Dass die Kommunistische Partei das verschleiert, ist ein Armutszeugnis.

Armutszeugnis

Extreme Armut steht einem modernen sozialistischen Staat mit chinesischen Charakteristika schlecht zu Gesicht. Also muss sie verschwinden, zumindest offiziell. Im Warmlaufen auf den jährlichen Volkskongress und mit Blick auf den 100. Jahrestag der Gründung der Kommunistischen Partei Chinas braucht es rühmliche Botschaften, um nachdrücklich zu belegen, dass eisernes Parteidiktat und eine unfehlbare Führungsspitze dem Wohle der Nation dienen und ganz im Sinne ihrer Bürger sind.

Chinas Staatspräsident Xi Jinping hat alle Register gezogen, um in einem beispiel­losen Zeremoniell die chine­sische Armutsbekämpfungskampagne zu einem „totalen Sieg“ zu erklären. Mit Blick auf das heimische Publikum handelt es sich um einen feierlichen Schlussakt für eine erfolgreich beendete Mission, mit der wieder einmal alle gesetzten Ziele pünktlich und jubiläumsgerecht erreicht wurden. Dem internationalen Publikum wiederum wird nun mit missionarischem Eifer nahegelegt, den chinesischen Erfolgsweg genau zu studieren und sich ein Beispiel daran zu nehmen.

Nun muss man zweifellos würdigen, dass sich Chinas Parteiapparat seit dem Ausrufen der Armutsbekämpfungskampagne mächtig ins Zeug gelegt hat und sich dabei nicht ausschließlich auf Subventionen und Hilfsgelder stützt. Mit einer Revitalisierungsoffensive für strukturschwache Gegenden wurde sehr viel brachliegendes wirtschaftliches Potenzial mobilisiert, und es wurden natürlich auch positive Einkommenseffekte bei besonders armen Be­völke­rungsschichten erzielt. So weit, so lobenswert. Was die Sache jedoch bedenklich macht, ist die Verfolgung eines starren Zielkatalogs, der es jetzt erlaubt, Siegeserklärungen abzugeben.

Es wurde ein offizieller Schwellenwert für extreme Armut bei einem Jahreseinkommen von 2300 Yuan auf Preisen des Jahres 2010 definiert. Gegenwärtig landet man damit bei 4000 Yuan Pro-Kopf-Einkommen, das sind umgerechnet 600 Dollar oder knapp 500 Euro, und zwar nicht im Monat, sondern im Jahr. Das bedeutet einen Lebensstandard von etwa 2,2 Dollar am Tag, was wiederum ziemlich genau der von der Weltbank aufgestellten internationalen Armutsdefinition entspricht. Diese hebt freilich auf ein Existenzminimum ab, das auch die ärmsten Entwicklungsländer umfassen soll. Abgesehen davon stellt der chinesische Armutslinderungsplan nicht auf Individuen ab, sondern auf Durchschnittseinkommen in den insgesamt rund 3000 chinesischen Verwaltungsdistrikten auf Lokalregierungsebene.

Im Jahr 2012 wurden 832 Gebietskörperschaften als offiziell unter der Armutsschwelle liegend deklariert, und jetzt soll es keinen einzigen Verwaltungsdistrikt mehr geben, der unter der kritischen Grenze liegt. Für die Linderung von Einzelschicksalen kann damit freilich noch lange nicht gebürgt werden. Nach offizieller Lesart der Partei hat man dennoch ein Wunder vollbracht, indem es gelungen ist, die wunderbar runde Summe von 100 Millionen Menschen aus tiefster Armut zu befreien. Bei näherem Hinsehen aber hat man zunächst einen hochbürokratischen Verwaltungsakt abgeschlossen, der mit nicht gerade anspruchsvollen statistischen Methoden und Armutsdefinitionen hantiert.

Natürlich gebührt Lob dafür, dass in China keiner mehr an Hunger sterben muss, was längst nicht für alle sogenannten Schwellenländer gilt. Wenn man jedoch für die weltweit zweitgrößte Volkswirtschaft spricht, die seit 40 Jahren ein ununterbrochen hohes Wachstum genießt, sollte man höhere Maßstäbe in Sachen Armutsbekämpfung anlegen, bevor man mit gutem Gewissen einen derartigen Sieg ausrufen kann. Was ist beispielsweise mit den hunderten Millionen von Wanderarbeitern, die sich in Großstädten mit exorbitanten Immobilienpreisen mit minimalen Löhnen eine Existenz aufzubauen versuchen? Sie fallen natürlich nicht unter die offizielle Armutsgrenze, müssen aber dennoch von der Hand in den Mund leben.

Damit landet man im Kern einer gravierenden sozialen Problematik: der wachsenden Kluft zwischen Reich und Arm, um die sich der Parteiapparat nicht so recht zu kümmern vermag oder will. Vielmehr ist das Problem wachsender Einkommensdisparitäten, die man mit dem sogenannten Gini-Koeffizienten wenigstens annähernd abzubilden vermag, gründlich verschleiert worden. Auf Anordnung von oben dürfen schon seit einigen Jahren keine regionalen oder landesweiten Gini-Koeffizienten erstellt oder verbreitet werden. Dort, wo es keine Erfolge zu verzeichnen gibt, will man erst gar nicht hinsehen. Und das ist nun wirklich ein Armutszeugnis.