Im Interview:Carsten Brzeski

„Die EZB scheint mir bei der Lohnentwicklung etwas zu entspannt“

ING-Chefökonom Carsten Brzeski rechnet mit einem hohen Lohnwachstum bis mindestens 2025. Auch an der Konjunkturprognose der EZB äußert er im Interview der Börsen-Zeitung Zweifel.

„Die EZB scheint mir bei der Lohnentwicklung etwas zu entspannt“

Herr Brzeski, die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die EZB im September die Zinsen senkt. Ist das nach aktuellem Stand der Dinge für Sie der richtige Schritt?

So ganz eindeutig ist der Schritt im September noch nicht. Einerseits schwächelt das Wirtschaftswachstum schon wieder und würde eine Zinssenkung rechtfertigen, andererseits bleibt der Inflationsdruck zu hoch. Die aktuellen Finanzmarktentwicklungen und die zu erwartende Abkühlung der US-Wirtschaft könnten bei der EZB den Fokus allerdings auch wieder mehr Richtung Wirtschaftswachstum verschieben. Damit nehmen die Argumente für eine Zinssenkung im September zu.

Erwarten Sie einen deutlichen Rückgang des Lohnwachstums in der Eurozone in den kommenden Monaten und vor allem in 2025 und 2026? Oder könnte der demografische Wandel und dessen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt dazu führen, dass sich das Lohnwachstum auf einem hohen Niveau einpendelt?

Nein. Hier scheint mir die EZB etwas zu entspannt. Viele Gewerkschaften werden in den nächsten Verhandlungsrunden versuchen, die Inflation der letzten beiden Jahre zu kompensieren. Daher sollte das Lohnwachstum mindestens noch dieses Jahr, aber wahrscheinlich auch 2025 weiterhin hoch bleiben. Der demografische Wandel und der damit verbundene Fachkräftemangel geben Arbeitnehmern und Gewerkschaften große Verhandlungsmacht. Nur eine stärkere Rezession und ein Anstieg der Arbeitslosigkeit könnte das Lohnwachstum schneller dämpfen.

Im Grunde genommen erwartet die EZB nun schon lange, dass die Konjunktur in kürzester Zeit wieder zum Potenzialwachstum zurückkehrt. Leider muss sie diesen Zeitpunkt regelmäßig verschieben.

Carsten Brzeski

Was ist aus Ihrer Sicht derzeit das größte Aufwärts- bzw. Abwärtsrisiko für die Inflation?

Das größte Aufwärtsrisiko ist ein anhaltender Lohndruck. Dadurch würde vor allem die Dienstleistungsinflation nachhaltig hoch bleiben. Das größte Abwärtsrisiko wäre eine Rezession und ein starker Anstieg der Arbeitslosigkeit.

Zuletzt ist eine Reihe an Konjunkturdaten eher enttäuschend ausgefallen, allen voran in Deutschland. Ist die Konjunkturprognose der EZB für den Euroraum zu optimistisch? Und wenn ja, was folgt daraus für die weitere Geldpolitik der Notenbank?

Die Gefahr ist groß, dass die Konjunkturprognose der EZB zu optimistisch war und ist. Im Grunde genommen erwartet die EZB nun schon lange, dass die Konjunktur in kürzester Zeit wieder zum Potenzialwachstum zurückkehrt. Leider muss sie diesen Zeitpunkt regelmäßig verschieben. Es ist ein bisschen so wie in der Vergangenheit mit den Inflationsprognosen: die Zielerreichung wird jedes Mal erwartet, kommt aber nie. Sollte sich bestätigen, dass die Konjunkturprognose der EZB zu optimistisch ist, würde das den Spielraum für Zinssenkungen vergrößern.

Meiner Meinung nach liegen wir bei den langfristigen Zinsen (10y Bund) sogar noch unter dem neutralen Niveau.

Carsten Brzeski

Für wie restriktiv halten Sie im Moment die Geldpolitik der EZB?

Die aktuelle Geldpolitik der EZB ist nur leicht restriktiv, da wir mit der inversen Zinskurve ja bei den langfristigen Zinsen historisch betrachtet wirklich keine hohen Zinsniveaus haben. Meiner Meinung nach liegen wir bei den langfristigen Zinsen (10y Bund) sogar noch unter dem neutralen Niveau.

Die EZB beginnt in diesem Sommer mit ihrer Strategieüberprüfung. Welche Anpassungen würden Sie sich wünschen?

Was ich mir wünschen würde, was aber nicht passieren wird, wäre eine erneute Umformulierung des Inflationsziels. Statt 2.0% wäre „um die 2%“ eine viel bessere Definition, die der EZB viel mehr Beinfreiheit geben würde.

Das Interview führte Martin Pirkl.


Die Antworten der anderen Befragten:

Silke Tober, Leiterin des Referats Makroökonomische Grundlagenforschung und Geldpolitik des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung: „Die Risiken für die Finanzmarktstabilität sind hoch“

Alexander Krüger, Chefökonom der Hauck Aufhäuser Lampe Privatbank: „Die Inflationsrisiken lauern von allen Seiten“

Ingo Mainert, CIO Multi Asset Europe bei Allianz Global Investors (AGI): „Man kann wohl von einer Lohn-Dienstleistungspreis-Spirale sprechen“

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