„Das Glas ist eher halbvoll“
Frau Utermöhl, w
enn Sie zu Jahresbeginn auf die Lage der deutschen Wirtschaft schauen – ist das Glas eher halbvoll oder halbleer?
Der Jahresstart dürfte für die deutsche Wirtschaft eher bescheiden ausfallen, schließlich steht sie an allen Fronten unter Druck. Von der Industrie sind angesichts anhaltender Lieferkettenengpässe aktuell keine großen Sprünge zu erwarten, und der Konsum ächzt unter der vierten Viruswelle und der stark gestiegenen Inflation. Trotz der aktuellen Durststrecke ist für mich das Glas aber eher halbvoll. Nach der Winterpause dürfte im zweiten Quartal sowohl einhergehend mit einer Entspannung der pandemischen Lage als auch abnehmendem Lieferkettenstress ein kräftiger Konjunkturaufschwung einsetzen.
Was stimmt Sie denn besonders zuversichtlich? Und was macht Ihnen die größten Sorgen?
Strukturell steht die deutsche Wirtschaft sehr gut da: Die angehäuften privaten Ersparnisse, die gute Arbeitsmarktlage und die hohe Kapazitätsauslastung bieten Nährboden für eine kräftige Erholung. Doch die Pandemie hängt wie ein Damoklesschwert über der Konjunktur. Impfstoffresistente Corona-Varianten wären natürlich der Super-GAU, doch auch ein anhaltendes Stop-and-Go der Wirtschaft könnte irgendwann Konsum- und Investitionspläne nachhaltig belasten. Darüber hinaus könnten auch pandemiebedingte Nebenwirkungen wie Lieferkettenstress und hohe Inflation – zusätzlich befeuert durch Chinas Null-Covid-Strategie – zunehmend den Aufschwung belasten.
Die Bundesregierung will wegen Omikron die Corona-Einschränkungen noch einmal verschärfen. Wie sehr wird das die wirtschaftliche Aktivität zusätzlich dämpfen?
Die gesamtwirtschaftlichen Schäden sind von Welle zu Welle milder ausgefallen. Wir haben uns zunehmend daran gewöhnt, mit dem Virus zu leben, was insbesondere auch einem guten Impfschutz zu verdanken ist. Im Vergleich zur Mega-Rezession im Frühjahr 2020 dürfte die wirtschaftliche Aktivität aufgrund neuer Restriktionen um den Jahreswechsel zwar etwas schwächeln – wobei es die personennahen Dienstleistungen wieder besonders hart treffen wird. Aber etwaige Einbußen sollten im weiteren Jahresverlauf größtenteils wieder wettgemacht werden.
Zu Beginn der Krise ging die Sorge vor einer Pleitewelle um, nun steht die Frage im Raum, ob die Wirtschaftshilfen zu viele Zombie-Unternehmen kreiert haben. Welcher These neigen Sie zu?
Die Corona-Hilfen haben vor allem gesunde Unternehmen gestützt, die unverschuldet in Schieflage geraten sind. Deshalb sollte sich der Anstieg von Zombie-Unternehmen in Grenzen halten. Doch in Branchen, in denen sich die Erholung zäh gestaltet oder in denen strukturelle Veränderungen eingeläutet wurden, etwa im stationären Einzelhandel oder im Bereich Geschäftsreisen, dürfte das Risiko von Zombie-Unternehmen mit der Dauer der Pandemie deutlich zunehmen. Mit einem Auslaufen der Hilfen wird es da zu mehr Insolvenzen kommen – vorausgesetzt, die Politik ist mutig genug, die Sicherheitsnetze vollständig zu kappen.
Neben der Pandemie treibt die Unternehmen aktuell wieder sehr stark der Fachkräftemangel um. Droht dieser zu einer echten Wachstumsbremse zu werden – und tut die neue Regierung genug, um gegenzusteuern?
Wenn ab 2025 die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen, wird sich der akute Fachkräftemangel nochmals massiv verschärfen und zunehmend zum größten wirtschaftlichen Bremsklotz werden. Bedroht ist nicht nur die kurzfristige Konjunkturentwicklung, weil etwa Aufträge aus Personalmangel abgelehnt werden müssen, sondern auch der langfristige wirtschaftliche Erfolg, denn ohne qualifizierte Arbeitskräfte wird der grüne und digitale Umbau nicht gelingen. Die neue Regierung wird sich noch viel stärker dieser Mammutaufgabe widmen müssen. Neben einer attraktiveren Gestaltung der dualen Ausbildung gilt es vor allem, die qualifizierte Zuwanderung zu stärken.
Die EZB betont stets, „günstige Finanzierungsbedingungen“ im Blick zu behalten. Investieren die Unternehmen in Deutschland dementsprechend – und auch genug mit Blick auf die Zukunft?
Finanzierungsbedingungen sind keine Panazee, wie der in den vergangenen Jahren rückläufige Trend der Unternehmensinvestitionen belegt. Um den für den Strukturwandel nötigen Investitionsbedarf zu stemmen, ist vor allem die Politik gefragt, indem sie den Standort Deutschland attraktiver macht. Die von der Ampel-Regierung vorgelegten Maßnahmen reichen nicht aus, um ein „Jahrzehnt der Zukunftsinvestitionen“ einzuläuten. Eine Ausweitung des Programms für Superabschreibungen – zeitlich sowie über grün und digital hinaus – und eine Unternehmenssteuerreform hätten den Investitionsturbo zünden können.
Die Ampel-Koalition will den Mindestlohn rasch auf 12 Euro anheben. Drohen dann in großem Stil Jobverluste oder kann er über die erhöhte Kaufkraft sogar einen Wachstumstreiber sein?
Die Mindestlohnanhebung dürfte kaum zu spürbaren Arbeitsmarktverwerfungen führen und mit gewissen positiven Konjunkturimpulsen ist auch zu rechnen. Dennoch sehe ich das Vorgehen der Ampel-Regierung kritisch. Zum einen ist der Zeitpunkt mehr als ungünstig: Angesichts der konjunkturellen Unsicherheit wäre eine schrittweise Erhöhung auf 12 Euro besser, um etwaige Arbeitsplatzverluste möglichst gering zu halten. Für problematisch halte ich auch, dass mit der politischen Festlegung des Mindestlohns ein Präzedenzfall geschaffen wurde. Es soll sich zwar um eine einmalige Anpassung handeln, doch die Versuchung, in naher Zukunft erneut an der Mindestlohnschraube zu drehen, bleibt groß.
Angesichts der hohen Inflation hat die IG Metall angekündigt, dass in den Tarifrunden nun höhere Löhne im Fokus stehen werden. Droht jetzt eine Lohn-Preis-Spirale?
Das Risiko einer Lohn-Preis Spirale ist sicher so hoch wie seit Jahrzehnten nicht, allerdings sehe ich bisher keine einschlägigen Hinweise auf solch eine selbstverstärkende Dynamik. Die Inflationserwartungen sind weiterhin verankert und die Tarifabschlüsse der vergangenen Monate sprechen für ein relativ vorsichtiges Vorgehen der Gewerkschaften. Das ist verständlich, denn eine Preis-Lohn-Spirale, die den Aufschwung und damit die Beschäftigung beeinträchtigt, kennt schließlich keine Gewinner.
Die Fragen stellten Mark Schrörs und Alexandra Baude.