Serie zur Bundestagswahl (5)Sozialpolitik

Das soziale Wolkenkuckucksheim der Wahlkämpfer

Statt die Sozialkassen auf die demografischen Probleme der nächsten Jahre vorzubereiten, verteilen die Parteien wieder in großem Umfang Wahlgeschenke, die alles noch schlimmer machen. Wann kündigen die jungen Menschen den Generationenvertrag?

Das soziale Wolkenkuckucksheim der Wahlkämpfer

Serie zur Bundestagswahl (5): Rente, Pflege und Co.

Das sozialpolitische Wolkenkuckucksheim der Wahlkämpfer

Statt die Sozialkassen auf die demografischen Probleme der nächsten Jahre vorzubereiten, verteilen die Parteien wieder in großem Umfang Wahlgeschenke

Von Stephan Lorz, Frankfurt

Der Sozialetat des Bundes beansprucht fast die Hälfte aller Bundesausgaben. Ein Moloch also, der sich in Wahlkampfzeiten wunderbar dafür eignet, um darin Wahlgeschenke und Wahlversprechungen zu verstecken. Natürlich werden die Steuergelder auch für vulnerable Gruppen und für familienpolitische Ziele verwendet. Aber der größte Teil wird dafür hergenommen, die durch politische Leistungsversprechen in den Sozialversicherungen aufklaffenden Finanzierungslücken zu stopfen.

Die Wahlgeschenke werden meist über die Sozialkassen umgesetzt. Einen Teil der Kosten finanziert dann zwar der Bund über Zuschüsse, den anderen Teil müssen aber in der Regel die Beitragszahler tragen. Ohne die Quersubventionierung etwa der Rentenbeiträge lägen die Sätze dort nicht bei aktuell 18,6%, sondern längst bei 25% des Bruttolohns. Und jedes neue Versprechen treibt die Beiträge weiter nach oben. Ein gefährliches Spiel! Denn weitere Beitragssteigerungen sind Gift für die Wirtschaft insgesamt. Das erhöht auch die Lohnzusatzkosten und damit die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, mindert die Kaufkraft, schwächt das Wachstum – und drückt am Ende auch auf die Steuereinnahmen.

Im laufenden Wahlkampf werden ebenfalls wieder neue soziale Härten gefunden, die gelindert werden müssten, statt sich den dringlicheren Finanzierungsproblemen der Sozialkassen zu widmen. Dabei steht die Rentenversicherung vor dem Kollaps wegen der demografischen Entwicklung: Immer weniger Beitragszahler müssen immer mehr Rentner finanzieren. 2035 werden 21 Millionen Menschen über 67 Jahre alt sein, und wegen vorzeitigem Rentenbezug dürften es sogar noch deutlich mehr sein. Zugleich aber nimmt die Zahl der Beitragszahler dramatisch ab: bis dahin um 5,8 Millionen.

Die Stellschrauben sind eigentlich klar: mehr Zuwanderung, höheres Renteneintrittsalter und/oder sinkendes Rentenniveau. Um die Beitragszahler bei der Stange zu halten, müsste man sogar umgekehrt denken: die Beitragshöhe einfrieren, und die Leistungen am Beitragsvolumen ausrichten. Doch das Gegenteil passiert: SPD, Grüne und CDU/CSU wollen das Rentenniveau bei 48% (Nettostandardrente) einfrieren. AfD und Linkspartei sind gar für eine Anhebung. Und auch am Renteneintrittsalter wollen die Parteien nicht rütteln und halten obendrein am abschlagsfreien Renteneintritt nach 45 Versicherungsjahren fest.

Mächtige Wählergruppe

CDU/CSU fordern immerhin eine Aktienrente, die Grünen einen „Bürger*innenfonds“ als Ergänzung zur „Gesetzlichen“; die FDP ein Altersvorsorgedepot. Und fast alle Parteien wollen Anreize setzen, damit Menschen auch nach dem Rentenbeginn noch etwas arbeiten. Das lindert die demografischen Nöte. Einige machen sich zudem Gedanken, wie man Arbeitsmigranten anwirbt, um die Sozialkassen zu entlasten. Aber an die entscheidenden Punkte traut sich niemand heran. „Das wäre auch zu unpopulär und für die Mandatsträger extrem karriereschädlich“, meint Demografieforscher Bernd Raffelhüschen mit Verweis auf die immer größere Wählergruppe der Rentner.

Aber auch bei den anderen Sozialzweigen wie Kranken- oder Pflegeversicherung geht es einigen Wahlkämpfern vorwiegend um „Verbesserungen“, wie mehr Geld für Pflegende sowie weniger oder gar keine Eigenbeteiligung mehr.

Mehr Geld ins System

Letztlich haben sich zwei Lager herausgebildet: CDU/CSU und FDP wollen über Kostentransparenz und Eigenverantwortung (Eigenanteile) die Bürger zu sparsamerem Verhalten „erziehen“. Zugleich sollen durch private Vorsorgeergänzungen – gern auch mit Kapitaldeckung – die Finanzen stabilisiert werden.

Dagegen wollen die anderen Parteien keine Lösung, sondern dem System schlicht mehr Geld zuführen. Sie fordern die Hereinnahme von Beamten und Selbständigen in die gesetzlichen Kassen, verlangen den Wegfall der Versicherungsgrenze, damit Gutverdiener ins gesetzliche System zurückkehren. Bei der Krankenversicherung heißt das dann „Bürgerversicherung“. Bei der Pflege soll es eine „Bürgerpflegeversicherung“ (SPD) / „Pflegebürgerversicherung“ (Grüne) richten. Und die gesetzliche Rente wird mit mehr Beitragszahlern eben zur „Bürgerrente“.

Problem Einheitsversicherungen

Tatsächlich fließt zunächst mehr Geld in die „Bürgerkrankenkasse“ ein. Doch ist das zum einen nur ein temporärer Vorteil, weil sich aus den Beiträgen ja auch ein Leistungsanspruch ableitet. Zum anderen entfällt der Wettbewerb zwischen „Gesetzlich“, „Ersatzkassen“ und „Privat“. Ein Blick nach Großbritannien zum National Health Service (NHS) schreckt diesbezüglich eher ab. Auch bei der Rente und Pflege wird der Finanznotstand allenfalls etwas verzögert.

Denn die kostentreibenden Strukturen bleiben weiter intakt. Nach einer Studie des Iges-Instituts steigt der Beitragsatz aller gesetzlichen Kassen ohne Reformen bis 2035 auf fast 50%. Zudem hat das Institut der deutschen Wirtschaft ausgerechnet, dass das Wachstum über das kommende Jahrzehnt dann rund ein halbes Prozent unter dem Niveau liegen wird als ohne Anstieg der Abgabenlast. Noch schlimmer wäre es, wenn die jungen Beitragszahler den Generationenvertrag indirekt aufkündigen würden. Dann müssten sich die Parteien dafür verantworten, dass sie in den Jahren, da Reformen noch möglich gewesen wären, versagt haben und die Migration nicht als Chance, sondern als Gefahr angesehen haben.


Hier finden Sie alle Teile der Serie zur Bundestagswahl 2025.

Zuletzt erschienen: Deutsche Fiskalregel entzweit die Parteien (1.2.) Konzepte für mehr Effizienz in der Energiewende gesucht (28.1.)

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.