Jens Eisenschmidt

„Das Überschießen der aktuellen Inflation ist dramatisch“

Seit Februar 2022 ist Jens Eisenschmidt Europa-Chefvolkswirt der US-Großbank Morgan Stanley. Zuvor hat er rund 14 Jahre bei der EZB gearbeitet. Im Interview ordnet er die neuen Beschlüsse des EZB-Rats ein – und äußert sich zur Zukunft.

„Das Überschießen der aktuellen Inflation ist dramatisch“

Mark Schrörs

Herr Eisenschmidt, die Europäische Zentralbank (EZB) hat erstmals seit elf Jahren ihre Leitzinsen erhöht und weitere Anhebungen avisiert. Wie beurteilen Sie das?

Die EZB befindet sich auf dem Kurs der geldpolitischen Normalisierung. Die mittelfristigen Inflationserwartungen liegen aktuell im Bereich von 2%; also anders als noch vor einem Jahr kann die EZB da von Zielerreichung sprechen. Das bedeutet, dass die Geldpolitik nun auf ein Niveau ge­bracht werden kann, welches we­der die Wirtschaft anheizt noch sie bremst. Die Richtung ist unstrittig. Der eigentliche geldpolitische Diskurs dreht sich derzeit um das angemessene Tempo der Normalisierung.

Wie stark wird die EZB ihre Zinsen erhöhen müssen, um die Inflation in Richtung ihres Ziels von 2% zu senken? Wird das möglich sein, ohne eine Rezession auszulösen?

Diese Debatte steht der EZB noch bevor. Im Kern handelt es sich um zwei eng verbundene Fragen: Was ist der neutrale Zins, und haben wir ein Umfeld mit strukturell höherer Inflation? Hat sich der Inflationsprozess strukturell nicht geändert, muss die EZB nicht sehr weit gehen. Niveaus zwischen 1% und 2% werden oft genannt. Ist die Inflation strukturell höher, wird das nicht reichen. Die konjunkturellen Risiken sind derzeit hauptsächlich auf die Energiekrise zurückzuführen, nicht auf die Geldpolitik. Allerdings hat die EZB kaum Spielraum, den Ab­schwung abzufedern, anders als noch vor ein paar Jahren. Da ist jetzt vor allem die Fiskalpolitik gefragt.

Die große Sorge gilt besonders einer Entankerung der Inflationserwartungen und einer Lohn-Preis-Spirale, mit der sich die hohe Inflation verfestigen könnte. Für wie groß halten Sie diese Gefahr?

Die EZB hat immer deutlich gemacht, dass sie genau dieses Risiko ganz klar im Blick hat. Unter anderem auch deshalb schätze ich die Gefahr einer Entankerung als gering ein. Am Ende läuft es darauf hinaus, wie glaubwürdig die EZB ihr Inflationsziel verfolgt. Da sehe ich kein Problem, schon aufgrund ihrer Unabhängigkeit und ihres eindeutigen Mandats. Eine andere Frage ist, zu welchen Kosten die Verankerung geschehen muss, und ob diese Kosten nicht kleiner wären, hätte man eher gehandelt. Das ist eine interessante Debatte.

Die EZB agiert sehr viel vorsichtiger als andere Zentralbanken weltweit – vor allem verglichen mit der US-Notenbank Fed. Ist sie zu zaghaft oder ist diese Zurückhaltung richtig?

Das prinzipiell langsamere Vorgehen der EZB ist verständlich, über den genauen Geschwindigkeitsunterschied kann man diskutieren. Die Verwerfungen hierzulande sind deutlich größer als überall sonst: Vor unserer Haustür haben wir einen bedeutenden geopolitischen Konflikt, eine Rezession ist sehr wahrscheinlich. Da finde ich es schon verständlich, dass die Zentralbank auf Sicht fährt.

Manch ein Beobachter warnt, dass die EZB mit Zinserhöhungen nun den Fehler von 2011 wiederholen könnte, als sie Zinserhöhungen schnell wieder zurücknehmen musste. Sehen Sie Parallelen?

Nur eingeschränkt. Die Geldpolitik ist heute expansiver als damals, der Weg zum neutralen Zins ist weiter. Der jetzige Zinsschritt war einfach nur die Beendigung negativer Zinsen, einer Sondermaßnahme. Das Überschießen der aktuellen Inflation ist dramatisch. Eine Straffung der Geldpolitik ist also ohne Zweifel angemessen. Es sieht allerdings danach aus, als ob der einsetzende Abschwung schon einen Gutteil der Arbeit der EZB machen könnte. In dieser Situation die Inflationsgefahren korrekt einzuschätzen, ist nicht leicht – was dann auch die Gefahr einer Gemeinsamkeit mit 2011 einschließt.

Der vorsichtigere Kurs der EZB belastet den Euro und hat ihn zeitweise unter die Parität zum Dollar gedrückt – was über steigende Importpreise das Inflationsproblem noch verschärft. Welche Rolle sollte das für die EZB spielen?

Die EZB nimmt die am Markt bestimmten Wechselkurse zur Kenntnis und bezieht sie in ihre Inflationsprognose mit ein. Das scheint die Einstellung der EZB zum Wechselkurs zu sein, und solange man sich in einem System flexibler Wechselkurse befindet, gibt es dazu auch kaum Alternativen.

Die EZB will noch bis mindestens Ende 2024 fällige Anleihen aus dem Corona-Notfallanleihekaufprogramm PEPP ersetzen. Ist das angemessen oder sollte die EZB früher beginnen, ihre Bilanz zu reduzieren?

Seit der globalen Finanzkrise ist die Zentralbankbilanz zum aktiven Ins­trument der Geldpolitik geworden. Viele Zentralbanken fahren das jetzt gleichzeitig zurück. Das birgt große Risiken und erschwert die Kommunikation, weil man an zwei Stellschrauben gleichzeitig dreht: Zinsen und Bilanzgröße. Solange man die gewünschte Straffung der Geldpolitik allein durch Zinserhöhungen erreichen kann, sehe ich keinen Grund, diese Risiken einzugehen.

Parallel zur Zinswende hat die EZB ein neues Instrument beschlossen, um ein Auseinanderdriften der Euro-Länder zu vermeiden: Ist es die Aufgabe der EZB, Renditen und Spreads zu kontrollieren und so hoch verschuldete Euro-Länder wie Italien zu unterstützen?

Die EZB ist auf einen funktionierenden Transmissionsmechanismus an­gewiesen. Wenn sie die Zinsen an­hebt und das von Land zu Land stark unterschiedlich wirkt, erschwert das ihre Aufgabe enorm. Die eigentliche Frage ist dann: Ist die Ursache des Problems etwas, das die EZB mit ih­ren Mitteln und innerhalb ihres Mandats in den Griff bekommen kann? Der Staatsschuldenstand gehört si­cher nicht dazu, ungerechtfertigte Spekulationsdynamiken dagegen schon.

Lässt sich wirklich guten Gewissens beurteilen, ob Renditespreads zwischen Euro-Staatsanleihen fundamental gerechtfertigt sind oder nicht? Droht die EZB so nicht zum Dauerausputzer für unsolide Finanz- und Wirtschaftspolitik oder für politische Krisen wie jetzt in Italien zu werden?

Man kann eine grobe Einteilung vornehmen in Spreads, die sehr wahrscheinlich fundamental gerechtfertigt sind, und solche, für die das nicht gilt. Dabei gilt: Mit höheren Werten sinkt die Wahrscheinlichkeit, das man danebenliegt. Nimmt man glaubwürdige, externe Beobachter, die den Zustand der Staatsfinanzen beurteilen, dazu, kann sich die Zentralbank weitgehend dagegen absichern, sich abhängig zu machen. Der Grat ist allerdings sehr schmal.

Die Fragen stellte .

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