Debatte über drohende „Stagflation“
Von Mark Schrörs, Frankfurt
Eigentlich gab es seit Jahresbeginn für viele Volkswirte und Marktteilnehmer nur ein Thema: die weltweit überraschend stark steigende Inflation, gepaart mit einer kräftigen Erholung der Wirtschaft im Frühjahr und Sommer. Allen voran in den USA liegt die Inflation seit Monaten bei rund 5%, und die Wirtschaft könnte nach bisherigen Schätzungen 2021 um 6 bis 7% wachsen. Jetzt aber taucht immer häufiger ein anderes Schlagwort, ein anderes Szenario auf: „Stagflation“ – hohe Inflation bei nachlassendem oder geringem Wachstum, also Stagnation.
„Die Stagflationsgefahr ist real“, sagte dieser Tage US-Nationalökonom Nouriel Roubini, Professor an der zur New York University gehörenden Stern School of Business – womit er sich anderen Warnungen anschloss, etwa von Ex-US-Finanzminister Larry Summers. Summers hatte bereits im Sommer gewarnt, es gebe eine Chance von eins zu drei, dass es zu hoher Inflation und womöglich Stagflation komme. Am Donnerstag erreichte das Thema dann auch die Pressekonferenz von EZB-Präsidentin Christine Lagarde nach der EZB-Zinssitzung – auch wenn Lagarde betont gelassen reagierte und die Gefahr herunterspielte.
Wer an Stagflation denkt oder davon spricht, hat vor allem die 1970er Jahre im Kopf. Im Zuge der Ölkrise gab es seinerzeit in fast allen westlichen Volkswirtschaften wirtschaftliche Stagnation und Inflation. In den westlichen Industriestaaten kam es nach einer Kürzung der Ölförderung durch die Opec zu deutlich anziehenden Inflationsraten – von 6% im Jahr 1972 auf 13% im Jahr 1974. Zugleich darbte vielerorts die Wirtschaft. In den USA etwa verdoppelte sich die Arbeitslosenquote binnen zwei Jahren nahezu – von 4,9% im Jahr 1973 auf 8,4% im Jahr 1975.
Von einem solchen Szenario scheint die globale Wirtschaft aktuell eher weit entfernt zu sein. Allerdings nehmen die Sorgen zu. Zum einen hält sich die hohe Inflation hartnäckiger als noch zu Jahresbeginn gedacht. Gerade auf den den Verbraucherpreisen vorgelagerten Preisstufen baut sich weiterhin starker Preisdruck auf. Jüngster Beleg sind die am Montag veröffentlichten Großhandelspreise für Deutschland. Sie lagen um 12,3% höher als ein Jahr zuvor, wie das Statistische Bundesamt mitteilte. Einen kräftigeren Anstieg gab es zuletzt im Oktober 1974 mit 13,2% während der ersten Ölkrise. Die längerfristigen Inflationserwartungen ziehen denn auch kräftig an – auch wenn sie für den Euroraum mit knapp 1,8% noch unter dem 2-Prozent-Ziel der Europäischen Zentralbank (EZB) liegen.
Zum anderen haben Konjunktursorgen zugenommen. Vor allem aus China, neben den USA lange die globale Konjunkturlokomotive, kamen in jüngster Zeit mitunter ernüchternde Wirtschaftsdaten. Auch in den USA droht eine Abkühlung der Wirtschaft. Neben den Sorgen um die Ausbreitung der Delta-Variante des Coronavirus spielen da anhaltende Engpässe bei vielen Rohstoffen und Vorprodukten wie Halbleitern eine zentrale Rolle. Das bremst vor allem die Industrie in vielen Ländern aus.
Gerade diese Engpässe forcieren nun die Stagflationsdebatte: Denn während diese einerseits das Wachstum dämpfen, sorgen sie andererseits für steigende Preise. Zu diesen kurzfristigen Entwicklungen gesellen sich aber noch längerfristige, strukturelle Überlegungen. So argumentiert vor allem der ehemalige britische Notenbanker Charles Goodhart, dass eine Rückabwicklung der Globalisierung infolge der Coronakrise und ein geringeres globales Arbeitskräftepotenzial längerfristig zu höherer Inflation führen könnten. Zugleich könnten solche Trends das Wachstum strukturell schwächen.
Die Notenbanker wollen davon bislang aber nichts wissen. Sie halten den Inflationsanstieg weiter vor allem für eine Folge von Basis- und Sondereffekten – und für temporär. Diese Position untermauerte für die EZB am Montag Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel. Sie warnte deshalb vor einer zu frühen geldpolitischen Straffung. Das wäre „Gift für den derzeitigen Aufschwung“.
Zugleich sind die Notenbanker überzeugt, dass – zumal mit einer anhaltenden Unterstützung durch die Fiskal- und Geldpolitik – die wirtschaftliche Erholung anhält. EZB-Chefin Lagarde betonte am Donnerstag insbesondere, dass die Hilfen für den Arbeitsmarkt fortgesetzt werden müssten, um die aktuell rund 2 Millionen mehr Arbeitslose gegenüber 2019 wieder in Arbeit zu bringen. „Wenn dies das Endergebnis dieser Erholung ist“, so Lagarde, „dann glaube ich nicht, dass wir auf eine Stagflation zusteuern werden.“