Im InterviewEnzo Weber, Arbeitsmarktforscher IAB

„Der Fachkräftemangel lässt sich nicht wegdigitalisieren“

Die Debatte über die Höhe des Bürgergelds hält Arbeitsmarktforscher Enzo Weber für fehlgeleitet. Vielmehr fehlt es an finanziellen Anreizen zur Arbeitsaufnahme, weil bei eigenem Verdienst gleich zu viele Transfers auf einmal entzogen werden.

„Der Fachkräftemangel lässt sich nicht wegdigitalisieren“

Im Interview: Enzo Weber

„Fachkräftemangel lässt sich nicht wegdigitalisieren“

Arbeitsmarktforscher hält Höhe des Bürgergelds nicht für ein Problem, sondern die Transferentzugsrate – Keine Entlassungswelle durch Transformation in Sicht

Die Debatte über das Bürgergeld hält Arbeitsmarktforscher Enzo Weber für fehlgeleitet. Stattdessen sollte das System insgesamt nachjustiert werden, damit sich die Arbeitsaufnahme finanziell stärker lohnt. Mehr künstliche Intelligenz im Job begrüßt er, weil sie die Produktivität steigert und Arbeit angenehmer macht.

Herr Weber, die Kritik an Bürgergeld reißt nicht ab. Es sei zu hoch, die Anreize zur Arbeitsaufnahme seien zu gering. Und wegen nicht aufeinander abgestimmter Sozialleistungen würden sich manche Menschen mit dem Bürgergeld sogar besserstellen als mit einem Job. Ist da was dran?

Leider muss man sagen, dass das Bürgergeld gegenüber Hartz IV tatsächlich zu weniger Arbeitsaufnahmen geführt hat. In einer Studie hatten wir das einmal durchgerechnet: Das Minus beträgt knapp 6%. Andere Effekte etwa durch den Konjunkturabschwung sind zwar stärker, aber der negative Impuls durch das Bürgergeld ist einfach da.

Was läuft falsch?

Das System muss insgesamt verbindlicher werden. Da hatte es viele Erleichterungen gegeben. Die Regierung hat nun aber härtere Sanktionen angekündigt. Mal sehen, ob das reicht. Aber eines ist klar: Die viel kritisierte Höhe des Bürgergelds ist gerade nicht das Problem.

Die viel krisierte Höhe des Bürgergelds ist gerade nicht das Problem.

Enzo Weber

Tatsächlich?

Es ist am Existenzminimum ausgerichtet, an dem wir nicht rütteln sollten. Problematisch ist allenfalls der Anpassungsmechanismus an die Inflation. Der führt bei steigender Teuerung kurzfristig zu einer zu starken Anhebung des Regelsatzes; das wird dann erst im Jahr danach korrigiert.

Warum nicht gleich die Sanktionen hochfahren, um den Druck zur Arbeitsaufnahme zu erhöhen?

Man muss das richtige Maß finden. Überzieht man, presst man die Menschen in irgendwelche Jobs hinein, von denen absehbar ist, dass sie da nicht lange bleiben werden. Das zerstört obendrein das Vertrauen in die Jobcenter, und die Schwierigkeiten mit den Jobsuchern werden nur noch größer. Ich bin da eher für finanzielle Anreize.

Also noch Geld zahlen, dass Arbeitslose eine angebotene Arbeit annehmen?

Ich denke da an eine Anschubfinanzierung. Und die Idee des Bürgergelds, stärker auf Qualifizierung und Unterstützung zu setzen, ist ja richtig. Bisher ist das leider zu kurz gekommen.

Das wurde ja auch schon bei Hartz IV versucht: fordern und fördern! Funktioniert hat offenbar nur das Fordern.

In der Tat: Der Druck auf die Arbeitslosen hat durchaus gewirkt. Aber damals hatten wir Massenarbeitslosigkeit. Heute suchen die Unternehmen oftmals händeringend Arbeitskräfte. Und da muss man qualitativ stärker auf die Passgenauigkeit schauen. Zudem müssen wir die Kompetenzen der Arbeitslosen weiterentwickeln. Und das wird umso schwieriger, je länger die Menschen schon ohne Job sind.

Sie betonen, dass man an der Höhe des Bürgergelds nicht rütteln dürfe. Aber wie passt das dann zusammen, dass Studien zufolge manche Arbeitslose mit dem Bürgergeld besser fahren als mit Arbeit?

Das Problem ist die Transferentzugsrate. Wer mehr arbeitet, bekommt weniger Bürgergeld oder danach Wohngeld und Kinderzuschlag. Eine weitere Ausweitung der Arbeit lohnt dann oft nicht finanziell.

Enzo Weber

Das ist nicht so, mit Arbeit hat man immer mehr als ohne. Aber es gibt ein uraltes Problem, das mit der Bürgergeld-Reform gar nichts zu tun hat. Das Problem ist die Transferentzugsrate. Wer mehr arbeitet, bekommt weniger Bürgergeld oder danach Wohngeld und Kinderzuschlag. Eine weitere Ausweitung der Arbeit lohnt dann oft nicht finanziell. Ab einem Verdienst von 1.200 Euro wird jeder Euro mehr im Bürgergeld wieder entzogen. Transferentzugsrate 100%!

Was kann man dagegen tun?

Wir brauchen mehr Freiräume bei den Hinzuverdienstmöglichkeiten. Eine Transferentzugsrate von 100% ist inakzeptabel. 70% wäre meine Forderung. Viel weiter runter würde ich nicht gehen, weil ansonsten große Teile des Niedriglohnsegments vom Sozialsystem subventioniert werden würden. Um die Anreize trotzdem noch weiter zu verbessern, habe ich eine Art Anschubfinanzierung bei Arbeitsaufnahme vorgeschlagen. Sie ist auch in der Wachstumsinitiative der Bundesregierung vorgesehen.

Warum nicht gleich eine negative Einkommensteuer einführen, die das Steuersystem mit dem Sozialsystem quasi fusioniert, so dass keine großen Transferentzugsbrüche mehr auftreten?

Ich halte nicht so viel von einer reinen negativen Einkommensteuer. Denn allein finanzielle Anreize reichen nicht aus; oft ist auch Betreuung wichtig. Beispielsweise, um Beschäftigung zu stabilisieren und Drehtüreffekte zu vermeiden. Auch die Auswirkungen auf die Zweitverdiener sind zu berücksichtigen. Wir müssen dafür sorgen, dass deren Erwerbstätigkeit nicht weiter zurückfällt, wenn das Familieneinkommen etwas steigt. Das wäre Gift für so ziemlich alles, was wir mit Arbeitsmarktpolitik erreichen wollen.

Sie hatten vorhin sehr großen Wert auf das Fördern gelegt. Aber können das die Jobcenter tatsächlich umsetzen? Es gibt zahlreiche Klagen, dass die Mitarbeiter dort vor lauter Bürokratie und Vorgaben gar nicht richtig zu ihrer Vermittlungsarbeit kommen.

Natürlich kenne die Klagen. Inwieweit sich hier Missstände zeigen, müssen andere beurteilen. Aber klar ist auch: Bei der unmittelbaren Beratung braucht es mehr Kapazitäten. Die Aufgaben wurden mehr, es gibt mehr Arbeitslose, mit den ukrainischen Geflüchteten sogar eine ganz neue Gruppe, und höhere Ansprüche bei der Vermittlung schon wegen des Strukturwandels in der Wirtschaft. Aber die Personen, die sich um die Umsetzung kümmern, sind nicht mehr geworden. Je höher die Betreuungsintensität, desto größer die Vermittlungserfolge – ganz einfach.

Man muss den Jobcenter-Mitarbeitern mehr Freiraum bei ihren Entscheidungen geben, etwa durch verstärkte Nutzung von Pauschalierungen.

Enzo Weber

Was wären Ihre Vorschläge zur Abhilfe?

Grundsätzlich muss den Mitarbeitern mehr Freiraum bei ihren Entscheidungen gegeben werden, etwa durch verstärkte Nutzung von Pauschalierungen. Damit würde schon viel Bürokratie und Aufwand verschwinden. Und auch bei der Digitalisierung sowie beim Einsatz von KI ist noch viel Spielraum vorhanden.

Wie wird künstliche Intelligenz derzeit konkret genutzt?

Es ist vieles denkbar. Zunächst bei der reinen Verwaltungsarbeit. Und bei der Arbeitsvermittlung könnte eine KI das Grundsetting schon einmal analysieren und erste Vorschläge machen. Es geht hierbei um Mustererkennung. Wo könnten Arbeitssuchende mit diesen Kenntnissen und diesen Erfahrungen eingesetzt werden? Wo hat sich das schon bewährt? Wer hat in welcher Situation die besten Chancen? Aber auch hier bleibt die Vermittlungsfachkraft entscheidend mit ihrem Einführungsvermögen und der Reaktion beim unmittelbaren Kontakt; letztlich also die menschliche Komponente.

Die jüngsten Daten vom Arbeitsmarkt signalisieren ja, dass die Arbeitsvermittler wieder mehr zu tun bekommen. Die Arbeitslosenzahlen steigen, die Strukturveränderungen in der Wirtschaft stellen ganze Branchen vor Herausforderungen. Droht uns eine Entlassungswelle?

Was mich umtreibt, sind die strukturellen Wirkungen der mannigfaltigen ökonomischen Transformationen.

Enzo Weber

Von einer Entlassungswelle würde ich nicht sprechen. Wir haben jetzt seit zwei Jahren einen Wirtschaftsabschwung. Und der macht sich nun auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar. Aber die Unternehmen dürften auch künftig vorsichtig sein bei Entlassungen, weil Arbeitskräfte insgesamt knapper geworden sind. Was mich eher umtreibt, sind die strukturellen Wirkungen der mannigfaltigen ökonomischen Transformationen.

Was beschäftigt Sie konkret?

Wenn Entlassungen anstehen, schaffen es nur die besonders prominenten Fälle in die Medien. Aber der Strukturwandel und die Transformation von fossiler hin zu nachhaltiger Energie, die Digitalisierung und Automatisierung etwa via KI sorgen schon für veränderte Rahmenbedingungen in vielen Unternehmen. Diesen Wandel müssen wir hinbekommen. Zum Glück haben wir es in der Regel mit Fachkräften zu tun, die vielseitig verwendbar sind.

Zum Glück haben wir es in der Regel mit Fachkräften zu tun, die vielseitig verwendbar sind.

Enzo Weber

Sie sind also optimistisch?

Durchaus. Die ganze Energiewende ist ja viel Elektrotechnik, Klimatechnik, Maschinenbau, Chemie und so weiter – also lauter grundständige berufliche Fähigkeiten, die wir hier auch haben. Wir müssen sie nur gezielt in die neuen Bereiche weiterentwickeln. Da brauchen wir meist gar keine Umschulung. Für kontraproduktiv halte ich deshalb auch den Trend in einigen Firmen zu Frühverrentungen. Denn wir brauchen die Leute noch andernorts.

Und die Entwicklung der KI macht Ihnen keine Sorgen? Die OECD etwa warnt vor dramatischen Umbrüchen auf dem Arbeitsmarkt.

Ich sehe den Einsatz von KI eigentlich recht positiv. Zum einen kann sie mithelfen, die Knappheit auf manchen Arbeitsfeldern etwas zu verringern, weil die KI Arbeit produktiver macht. Das ist gerade angesichts unserer demografischen Bevölkerungsentwicklung wichtig. Zum anderen wird sie viele eher langweilige oder belastende Jobs übernehmen können; und die Menschen dort können kreativeren Tätigkeiten nachgehen. Bürokratieabbau durch KI – das wäre doch in unser aller Sinn, oder?

Schon bei früheren Automatisierungszyklen stand die Frage im Raum, ob uns die Arbeit ausgeht. Das war dann nicht der Fall.

Enzo Weber

Es wird also in Deutschland bei der Arbeitskräfteknappheit bleiben?

Alle unsere Studien deuten darauf hin, dass Digitalisierung und KI zwar zu einem Umbruch führen, aber der Arbeitskräftebedarf in der Summe nicht sinken wird. Schon bei früheren Automatisierungszyklen stand die Frage im Raum, ob uns die Arbeit ausgeht. Das war nicht der Fall. Das heißt aber auch, Fachkräftemangel kann man nicht wegdigitalisieren. Der Wettbewerb um Arbeitskräfte wird intensiv bleiben – und genau daraus können wir das Beste machen.

Das Interview führte Stephan Lorz.

Das Interview führte Stephan Lorz.

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