Der Fehler liegt im System
Von Anna Steiner, Frankfurt
Die weltweite Hungerkrise verschärft sich mit rasantem Tempo. Der Welthungerhilfe der Vereinten Nationen zufolge leiden aktuell weltweit rund 345 Millionen Menschen in 82 Ländern an akutem Hunger – das sind 200 Millionen mehr als noch 2019. Nicht nur der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, einen der wichtigsten Getreideproduzenten der Welt (siehe Grafik), hat die Situation massiv verschlechtert. Die Gründe liegen im System. Und auch die Coronavirus-Pandemie hat einen bedeutenden Anteil.
Produktion ist kein Problem
Die internationale Politik müht sich angesichts der blockierten Schwarzmeer-Häfen in der Ukraine, Alternativen für die Lebensmittelversorgung zu schaffen. An diesem Freitag laden Bundesaußenministerium, Entwicklungsministerium und Landwirtschaftsministerium zum internationalen Ernährungsgipfel in Berlin. „Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt die Welt vor eine Hungerkrise von dramatischen Ausmaßen“, heißt es in der Einladung. Gemeinsam wollen die größten Industriestaaten (G7) unter dem derzeitigen Vorsitz von Deutschland Maßnahmen erörtern, wie die Krise eingedämmt werden kann. Auf dem sich anschließenden G7-Gipfel ab Sonntag auf Schloss Elmau wird die globale Unterernährung ebenfalls eine wichtige Rolle spielen.
Auch die Welthandelsorganisation (WTO) hat sich des Themas angenommen (siehe Bericht unten). Der Internationale Währungsfonds (IWF) unterstützt besonders arme Länder, deren Zahlungsbilanzen wegen der massiv gestiegenen Lebensmittelpreise leiden, mit einem speziellen Fonds. Viele dieser Staaten waren bereits durch die Coronakrise stark geschwächt und sind nun doppelt betroffen. Die EU kündigte am Dienstag an, ihre Hilfe für besonders betroffene Staaten mit 600 Mill. Euro aus dem Entwicklungsfonds aufzustocken. Sie hat zudem in ihrem Ende März vorgestellten Plan für mehr Ernährungssicherheit angekündigt, die Produktion von Nahrungsmitteln ausweiten zu wollen.
So hilfreich das zunächst klingt: De facto gibt es keinen Mangel an Nahrungsmitteln. Der UN-Ausschuss für Welternährungssicherheit (CFS) erklärte erst vor Kurzem, dass die momentane Krise kein Zeichen für ein globales Produktionsdefizit sei, sondern für eine unzureichende Verteilung.
In Deutschland wird über die Freigabe von Brachflächen für die Landwirtschaft diskutiert. „Brachflächen müssen für den Anbau freigegeben werden“, heißt es in einem Infoblatt der CDU. „Dadurch können in Deutschland rund 800000 Tonnen Weizen im Jahr mehr geerntet werden.“ Für den Deutschlandchef der Welthungerhilfe in Berlin, Martin Frick, ist das aber kontraproduktiv. Brachflächen seien wichtig für die Biodiversität und diese für den Kampf gegen den Klimawandel. Der Fehler liegt, wie viele Nichtregierungsorganisationen seit Jahren monieren, im System.
Immer weniger Nahrungsmittelsorten werden auf immer größeren Flächen angebaut. So entstehen Monokulturen in Ländern, die klimatisch nicht einmal geeignet sind für den Anbau – beispielsweise Weizen in Indien und Pakistan. Der Grund: Auf dem Weltmarkt gibt es mehr Geld für Weizen als für die unbeliebteren – aber klimatisch günstigeren – Linsen oder Gerste.
Oligopole aufbrechen
Der Klimawandel mit Dürren in Indien (Weizen) und Brasilien (Mais) verknappt den Rohstoff und treibt die Preise. Auch die bereits seit 2021 steigenden Energie- und Transportkosten schlagen sich in den Preisen für Lebensmittel nieder (siehe Grafik). Dass etwa Weizen ein an der Börse gehandelter Rohstoff wie Öl oder Gold ist, ruft zudem Spekulanten auf den Plan, die auf höhere Lebensmittelpreise wetten.
Bereits Ende Mai schlug der IWF Alarm: Mehr als 30 Länder hätten riesige Haushaltslöcher – verursacht durch die horrenden Preise für Nahrungsmittel. Die Importabhängigkeit von Getreide und anderen Grundnahrungsmitteln gerade im globalen Süden ist hoch. Den Ausweg aus dieser Spirale aus Abhängigkeit von Lebensmitteln, Klimakrise, steigenden Preisen, Zahlungsunfähigkeit und Hunger sehen Experten in der Förderung von regionaler Landwirtschaft, die an die jeweiligen klimatischen Bedingungen angepasst ist.
Durch lokal produzierte Lebensmittel könnte auch die Marktmacht der vier sogenannten ABCD-Konzerne (ADM, Bunge, Cargill und Louis Dreyfus) aufgebrochen werden, die sich den Markt für Mais, Reis, Weizen und Zuckerrohr aufteilen und Rekordgewinne angesichts der gestiegenen Preise einfahren konnten. Nicht zuletzt wäre eine Verbreiterung des Sortenangebots die Folge – sowohl für die Ernährung und Gesundheit als auch für Umwelt und Klima ein Vorteil.