„Der Markt preist die bevorstehende Wende in der Geldpolitik zu aggressiv ein“
Herr Veit, was ist aus Ihrer Sicht die überraschendste Nachricht, die von der geldpolitischen Sitzung der EZB ausging?
Insgesamt entsprach das Ergebnis den Erwartungen. Die EZB wird an ihrem datengetriebenen Ansatz festhalten, bis sie zuversichtlich genug ist, dass die Inflation nachhaltig zum Zielwert zurückkehrt. Etwas erstaunt sind wir jedoch darüber, mit welchem Nachdruck der Markt von einer baldigen Zinssenkung der EZB ausgeht – gerade, wenn man bedenkt, welche Unsicherheiten hinsichtlich der Inflation noch bestehen.
Für wann rechnen Sie mit einer ersten Zinssenkung der EZB?
Obwohl die Zinssätze voraussichtlich ihren Höhepunkt erreicht haben, glauben wir, dass der Markt die bevorstehende Wende in der Geldpolitik zu aggressiv einpreist. Der Markt rechnet derzeit mit einer ersten Zinssenkung um den April herum. Wir bleiben allerdings skeptisch, ob die EZB so früh Zinssenkungen vornehmen wird, da die Kerninflation immer noch hoch ist und die Aussichten für die mittelfristige Inflation unklar sind. Wir halten es für wahrscheinlicher, dass die Zinssenkungen ab Juni oder noch später in diesem Jahr beginnen werden. Wir gehen davon aus, dass die EZB – mit Blick auf ihr vorrangiges Mandat der Preisstabilität – auf mehr Klarheit über die Entwicklung der Lohnstückkosten warten wird, als zu riskieren, dass sie ihren Kurs ändern und die Zinsen wieder erhöhen muss.
Wie hoch ist aus Ihrer Sicht die Gefahr, dass die EZB zu spät die Zinsen senkt?
Das hat etwas mit Risikomanagement zu tun, da die Risiken für die Geldpolitik asymmetrisch verteilt sind. Die Geschichte der hohen Inflation lehrt uns, dass, wenn die Zentralbanken versuchen, zu schnell zu normalisieren, bevor das Problem wirklich besiegt ist, wir eine weitere Inflationswelle und anschließend eine weitere Welle von Zinserhöhungen bekommen. Die EZB wird eine solche Situation um jeden Preis vermeiden wollen. Sobald der Zinssenkungszyklus beginnt, könnte die EZB jedoch recht zügig vorgehen.
Der Interviewte: Konstantin Veit ist Portfolio-Manager und Leiter der European Rates- und Short-Term Desks beim Vermögensverwalter Pimco.
Wie wird sich die Euro-Inflation 2024 entwickeln?
Die Gesamtinflation im Euroraum lag im Dezember bei 2,9% im Jahresvergleich, die Kerninflation bei 3,4%. Diese Zahlen liegen deutlich unter den Spitzenwerten von 10,6% im Oktober 2022 bzw. 5,7% im März 2023. Doch damit sich die Inflation im Einklang mit den EZB-Projektionen entwickelt und sich vollständig dem Zielwert annähert, müssen die Unternehmen ihre Gewinnmargen als Puffer nutzen, um die Überwälzung der Lohnsteigerungen auf die Verbraucherpreise zu begrenzen. Gleichzeitig müsste sich die Produktivität erholen und das Lohnwachstum auf ein Niveau zurückgehen, das mit einer Inflationsrate von 2% vereinbar ist. Zwar dürfte sich die Inflation weiter abschwächen, doch in diesem Jahr weiterhin über dem Zielwert der EZB bleiben.
Was ist derzeit das größte Aufwärtsrisiko für die Inflation?
Die Erfolge gegen die einfach zu besiegenden Inflationstreiber liegen hinter uns. Nun liegt der Fokus auf den finanziellen Bedingungen, der Geopolitik, dem fiskalpolitischen Kurs, den Gewinnmargen der Unternehmen und der Entwicklung der Lohnstückkosten. Am wichtigsten ist hierbei aber sicherlich das Lohnwachstum. Wenn das Lohnwachstum nicht im Einklang mit den EZB-Projektionen zurückgehen, besteht die Gefahr, dass die EZB länger restriktiv bleiben muss. Auch die derzeit rekordverdächtig niedrige Arbeitslosenquote von 6,4% ist nach dem aggressivsten EZB-Anhebungszyklus in der Geschichte in der Tat eher ungewöhnlich.
Kann die Eurozone eine Rezession in diesem Jahr vermeiden?
Trotz eines robusten Starts blieb die Wirtschaft der Eurozone über weite Strecken des Jahres 2023 schwach. Wir gehen davon aus, dass diese Schwäche auch 2024 anhalten wird. Nachdem der Einkaufsmanagerindex der Eurozone im April einen Höchststand von etwa 54 erreicht hatte, fiel er im Juni auf unter 50 und verharrt seitdem auf diesem Niveau, was auf eine leicht schrumpfende Wirtschaft hindeutet. Obwohl die Konjunktur die Talsohle zu durchschreiten scheint, wird die Eurozone in diesem Jahr wahrscheinlich nur ein schwaches Wachstum verzeichnen. Im Vergleich zur EZB sind wir etwas weniger konstruktiv eingestellt, was die Wachstumsaussichten angeht.
Wie schätzen Sie die wirtschaftliche Entwicklung Deutschland ein?
Technisch gesehen befindet sich Deutschland bereits in einer leichten Rezession. Die deutsche Industrieproduktion verzeichnete im November den sechsten monatlichen Rückgang in Folge und schrumpfte im Vergleich zum Vormonat um 0,7%, während die Konsenserwartungen von einem Anstieg um 0,3% ausgingen. Dies deckt sich mit den jüngsten Rückgängen bei den deutschen Industrieaufträgen und unterstreicht die anhaltende Anfälligkeit des deutschen verarbeitenden Gewerbes. Deutschlands Geschäftsmodell steht vor zahlreichen Herausforderungen und die derzeitige wirtschaftliche Schwäche ist das Ergebnis eben dieser Herausforderungen. Es gelingt der deutschen Wirtschaft nicht, das nötige Momentum aufzubauen. Wahrscheinlich ist auch die aktuelle Fiskalpolitik etwas zu straff.
Das Interview führte Martin Pirkl
Die weiteren Umfrageteilnehmer sind: Sebastian Dullien, Michael Hüther, Fritzi Köhler-Geib, Jörg Krämer und Christoph M. Schmidt.