GastbeitragFrankreichs Staatsverschuldung

Die „Bond Vigilants“ sind wieder da

Paris hat ein Problem mit seiner immer höheren Schuldenlast und den damit einhergehend steigenden Zinsen. Eine finanzpolitische Kehrtwende ist überfällig.

Die „Bond Vigilants“ sind wieder da

Frankreich hat wieder eine Regierung, aber wie lange sie sich halten kann, ist vollkommen offen. Die Finanzmärkte sehen die Erfolgschancen offensichtlich kritisch, denn die Risikoprämien für zehnjährige französische Staatsanleihen sind zuletzt signifikant gestiegen. Ein besonderes Augenmerk haben die Investoren dabei auf den zu verabschiedenden Haushalt 2025. Die neue Regierung unter dem früheren Brexit-Verhandler und neuen Premier Michel Barnier steht vor der Herausforderung, angesichts des Defizitverfahrens durch die EU den Haushalt zu konsolidieren, ohne das ohnehin schon fragile Wirtschaftswachstum zu gefährden. Außerdem könnte es schwierig werden, dafür die nötigen politischen Mehrheiten zusammenzubekommen. Am 1. Oktober soll über den neuen Haushalt abgestimmt werden, es könnte zu einem Misstrauensvotum gegen Barnier werden – muss es aber nicht.

Unser Gastautor: Cyrus de la Rubia, Chefvolkswirt der Hamburg Commercial Bank (HCoB)

Auf Tolerierung durch RN angewiesen

Die politische Ausgangslage ist schwierig. Präsident Emmanuel Macron hat eine Regierung geformt, die hauptsächlich aus seiner Bewegung „Renaissance“ und der Partei „Les Républicains“ besteht, die zusammen in der im Juni gewählten Nationalversammlung nicht über eine Mehrheit verfügen. Das Linksbündnis unter Führung von Jean-Luc Melanchon blieb unberücksichtigt, ebenso wie der von Jean-Marine Le Pen gegründete extrem rechts ausgerichtete Rassemblement National (RN). Macron setzt aber offensichtlich darauf, dass die Regierung vom RN toleriert wird. Dies wird unter anderem deutlich an der Personalie von Bruno Retailleau, der dem konservativen Flügel der Republikaner zugeordnet wird und als Innenminister vereidigt wurde. Er ist Befürworter einer deutlichen Verschärfung der Einwanderungspolitik.

Aufgewacht aus einem langen Schlaf

Den Investoren geht es bei alledem vor allem um die Frage, ob Frankreich in der Lage ist, in diesem politischen Umfeld die öffentliche Verschuldung zu reduzieren. Davon wird abhängen, ob die Risikoprämie auf Staatsanleihen, die im zehnjährigen Segment mittlerweile knapp 80 Basispunkte erreicht – der Durchschnitt seit 2009 liegt bei 45 Basispunkten – sich wieder reduziert. Die Ausweitung der Spreads zeigt, dass die sogenannten Bond Vigilants im Fall von Frankreich aus ihrem lang anhaltenden Schlaf wieder erwacht sind und aufmerksamer als bisher die Haushaltspolitik beobachten. Die Reduktion der Risikoprämie ist entscheidend, um die Konsolidierung des Haushalts so konjunkturschonend wie möglich durchsetzen zu können.

Wie eine Schuldenspirale vermieden werden kann

2023 lag die öffentliche Verschuldung Frankreichs bei 110% des BIP. Wie sich die Verschuldung mittel- bis langfristig entwickelt, hängt von den durchschnittlichen Zinsen ab, die der Staat auf die ausstehenden Schulden zahlen muss, von dem Wachstum der Steuereinnahmen, was durch das BIP-Wachstum approximiert werden kann, sowie dem sogenannten Primärsaldo. Letzteres ist der Budgetsaldo vor Berücksichtigung der Zinszahlungen.

Problematisch wird es für ein Land immer dann, wenn die durchschnittlichen Realzinsen höher sind als das durchschnittliche reale Wirtschaftswachstum. Denn in diesem Fall kommt es zu einer Schuldenspirale, in der mehr Schulden aufgenommen werden müssen, um einen Teil der Zinszahlungen leisten zu können, der Schuldenberg wird automatisch immer größer. Die gute Nachricht: In Frankreich ist es in den vergangenen Jahrzehnten nie zu dieser Situation gekommen, denn das reale Wirtschaftswachstum entsprach im Durchschnitt in etwa dem realen Zins.

Die Verschuldung ist dennoch gestiegen, weil der Staat vor Zinszahlungen mehr ausgegeben hat als er an Einnahmen generiert hat. Und damit kommen wir zu der weniger guten Nachricht: Die Investoren, die Ratingagenturen sowie die EU-Kommission verlangen, dass die Verschuldung im Verhältnis zum BIP in den kommenden Jahren sukzessive reduziert wird. Das impliziert, dass ein Konsolidierungskurs gefahren wird, also mit einer Mischung von Ausgabenreduktionen, zusätzlichen Einnahmen und wachstumsfreundlichen Reformen gegengesteuert wird. Gelingt dies nicht, verkompliziert sich die Lage. Denn in diesem Fall dürfte die Risikoprämie steigen und somit auch die Zinsen. Im Extremfall könnte sich die oben beschriebene Schuldenspirale in Gang setzen.

Keine Schocktherapie

In diesem Jahr steuert das Land auf ein Budgetdefizit von mindestens 5,5% des BIP zu. Wollte Frankreich die Verschuldung von einem Jahr auf das nächste stabilisieren, müsste sie den Primärsaldo, der derzeit bei -3,5% des BIP liegt (2% des BIP sind Zinsausgaben), auf Null reduzieren. Das entspräche über 100 Mrd. Euro und wäre ein erheblicher Konsolidierungsschritt, der vermutlich zu einer tiefen Rezession führen würde und daher weder von der EU-Kommission verlangt, noch von den Finanzmärkten belohnt und schon gar nicht von der Gesellschaft akzeptiert würde. Vielmehr schlägt der französische Rat für Wirtschaftsanalyse (Conseil d’analyse economique) vor, das Budgetdefizit schrittweise über sieben bis zwölf Jahre um jährlich 0,5% des BIP zu reduzieren (rund 15 Mrd. Euro). Eine Schocktherapie lehnt das Gremium wohlweislich ab.

Moderate Ausgabenkürzungen und Einnahmeerhöhungen

Vielmehr macht der Rat konkrete Vorschläge, wo konjunkturschonend Einschnitte gemacht werden können. 4 Mrd. Euro könnten beispielsweise eingespart werden, wenn die Ausbildungshilfe, die bis 2020 nur Geringqualifizierten zur Verfügung stand und dann auf höher qualifizierte Menschen ausgeweitet wurde, wieder auf die ursprüngliche Zielgruppe fokussiert würde. Die Erfahrung habe gezeigt, dass der Produktivitätseffekt für die höher qualifizierten Personengruppen nicht besonders signifikant ist. Ausgabenkürzungen von weiteren 2 Mrd. Euro würden sich ergeben, wenn die Reduktion von Lohnnebenkosten, die derzeit auf alle Löhne bis zum 3,5-fachen des Mindestlohnes angewendet werden, nur noch auf Lohngruppen bis zum 2,5-fachen des Mindestlohnes angewendet würde.  Vorgeschlagen werden zudem noch Kürzungen bei im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hohen steuerliche Anreize für Forschung und Entwicklung (2,5 Mrd. Euro). Auf der Einnahmenseite hält der Rat es für möglich, durch eine die Abschaffung vieler Ausnahmetatbestände bei der Erbschaftssteuer die Einnahmen um 9 Milliarden Euro zu erhöhen.

Welchen Preis ist die Regierung bereit, zu zahlen?

Kann das gelingen? Natürlich stößt jede Kürzung oder Abschaffung steuerlicher Ausnahmen auf Widerstand in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen. Die von dem Beratungsgremium vorgeschlagenen Maßnahmen machen aber auf den ersten Blick nicht den Eindruck, dass sie massive langanhaltende Proteste auslösen würden. Die Frage ist vermutlich eher, ob und wie der RN sich die Tolerierung der Regierung durch etwaige Konsolidierungsschritte „bezahlen“ lassen möchte, etwa mit dem Rückgängigmachen der Rentenreform. Auch das würde die Bond Vigilants wieder auf die Bühne holen, die Spreads würden steigen. Möglicherweise konzentriert sich Le Pen aber auch auf die Verschärfung der Migrationspolitik sowie auf die Beschneidung der Rechte von Menschen mit Migrationshintergrund. Bond Vigilants sind in dieser Beziehung eher agnostisch. Die Frage wird aber sein, welchen Preis Präsident Macron bzw. Premier Barnier zu zahlen bereit sind bzw. ob durch eine derartige Politik die gesellschaftliche Stabilität gefährdet ist.

Insgesamt ist die Verschuldungssituation Frankreichs für sich gesehen noch beherrschbar. Es wäre aber nicht das erste Mal, dass politische Interessenskollisionen dazu führen, ökonomische Notwendigkeiten hintenan zu stellen. Die nächsten Monate dürften an den Anleihemärkten von hoher Nervosität geprägt sein.