Vítor Constâncio

„Die EZB hat eine solche Kritik nicht verdient“

Vítor Constâncio war von 2010 bis 2018 Vizepräsident der EZB und galt als intellektuelles Schwergewicht im EZB-Rat. Noch immer beobachtet er die Geldpolitik weltweit intensiv. Im Interview spricht er über die Fed, die EZB – und die hohe Inflation.

„Die EZB hat eine solche Kritik nicht verdient“

Mark Schrörs.

Herr Professor Constâncio, die US-Notenbank beginnt, ihre billionenschweren Anleihekäufe zu re­duzieren. Ist jetzt der richtige Zeitpunkt für diesen ersten Schritt aus den Corona-Maßnahmen? Und werden bald Zinserhöhungen folgen – womöglich schon 2022?

Die zusätzlichen Anleihekäufe der Zentralbanken seit März 2020 waren entscheidend für die Stabilisierung der Märkte und unserer Volkswirtschaften. Nun, da die Covid-Krise ab­geklungen ist – wenn auch mit anhaltenden Auswirkungen –, ist es normal, dass diese außergewöhnlichen Programme allmählich reduziert wer­den. Dies muss schrittweise ge­sche­hen, insbesondere in Europa, um Turbulenzen aufgrund von Klippeneffekten zu vermeiden. Und es muss von anderen Maßnahmen zur Unterstützung des Aufschwungs begleitet werden. Was die Zinserhöhungen angeht, so halte ich es für falsch, dass die Märkte mit einer Erhöhung durch die EZB Ende 2022 und mit zwei oder drei Erhöhungen durch die Fed im nächsten Jahr rechnen – obwohl eine davon möglich ist, da die Inflation höher ist als in Europa.

Wieso halten Sie das für falsch?

Meine Gründe liegen im Rückgang der Inflation, wie er von den Zentralbanken, allen internationalen Institutionen und den meisten Wirtschaftswissenschaftlern vorhergesagt wird. Die jüngsten Inflationsprognosen der Fed für die Jahre 2021 bis 2024 lauten 4,5%, 2,2%, 2,2% und 2,0%. Die EZB prognostiziert 2,2% im Jahr 2021 und 1,7% sowie 1,5% in den beiden Folgejahren. Diese Zahlen vom September werden in den Dezember-Projektionen wahrscheinlich leicht erhöht werden. Wenn der Energieschock in der ersten Hälfte des nächsten Jahres an­hält, ist es sogar möglich, dass sich die Inflation im Jahr 2022 im Durchschnitt 2% nähert, aber Ende 2022 unter 2% liegt. Diese Prognosen bieten keinen Grund für Zinserhöhungen im nächsten Jahr im Euroraum.

Vor allem in den USA wächst die Sorge, dass die hohe Inflation außer Kontrolle gerät. Wie groß schätzen Sie diese Gefahr ein?

Die erwähnten Prognosen zeigen deutlich, dass die Inflation nicht au­ßer Kontrolle geraten ist. Der IWF geht aktuell von einer Inflationsrate von 1,9% für die fortgeschrittenen Volkswirtschaften im Zeitraum 2023 bis 2026 aus. Der derzeitige Inflationsschub ist auf restriktive Angebotsschocks zurückzuführen, die vor al­lem bei Energieerzeugnissen und un­terbrochenen Lieferketten bei einigen Zwischenprodukten auftreten. So lag die Inflation im Euroraum im Ok­tober bei 4,1%, aber die Inflation der Energiepreise betrug 23,5%. Ohne Energie lag die Inflation nur bei 2%.

Und in den USA?

In den USA verhält es sich ähnlich. Die aktuelle Inflationsrate liegt bei 5,4%, aber für Energie beträgt sie 24,8%. Besorgniserregend wäre die Möglichkeit sogenannter Zweitrundeneffekte, also das Übergreifen auf andere Preise, Löhne und die Inflationserwartungen. Aufgrund des schwindenden Einflusses der Gewerkschaften hat es aber seit Jahrzehnten keine Lohn-Preis-Spiralen mehr gegeben. Was die Er­wartungen betrifft, so zeigt ein aktuelles Arbeitspapier der EZB, dass ihr Einfluss auf die Inflationsvorhersage nicht sehr groß ist. Außerdem ist es sehr unwahrscheinlich, dass eine reine sich selbst erfüllende Erwartungsspirale einen Inflationsprozess aufrechterhalten kann.

Die hohe Inflation ist weltweit aber viel hartnäckiger, als fast alle zu Beginn des Jahres dachten.

Das wesentliche Überraschungsmoment und die Hartnäckigkeit hängen mit den Energiepreisen zusammen. Energiepreisspitzen sind das Ergebnis bewusster Beschränkungen seitens der Erzeugerländer, die versuchen, nach den sehr niedrigen Preisen des vergangenen Jahres wieder Einnahmen zu erzielen. Die Energiepreise können jedoch nicht so weiter steigen, wie sie es in diesem Jahr getan haben. Die Nachfrage wäre da­zu nicht in der Lage. In der Tat wird das Wirtschaftswachstum ab 2022 zurückgehen. Für 2023 sagen die Fed und die EZB ein Wachstum von 2,5% sowie 2,1% voraus. In der jüngsten IWF-Prognose für 2023 bis 2026 wird es für die fortgeschrittenen Volkswirtschaften auf 1,8% geschätzt.

Angesichts der hohen Inflation liebäugelt die Bank of England mit einer raschen Zinserhöhung, möglicherweise schon 2021. Einige Ökonomen halten dies für eine Überreaktion. Wie sehen Sie das?

Ich denke, es wäre verfrüht und ein Fehler. Die Inflation wird derzeit durch Angebotsschocks angetrieben, und im Vereinigten Königreich gehört der Brexit dazu. Höhere Zinssätze können die Angebotsschocks nicht ausgleichen und die anhaltende Knappheit, die die Preise in die Höhe treibt, nicht überwinden.

Trotz 4,1% Inflation hält die EZB an ihrer ultralockeren Geldpolitik fest. Aber Sie finden nicht, dass sie „hinter die Kurve“ gefallen ist?

Nein, das denke ich nicht. Lassen Sie mich noch hinzufügen, dass die Inflation von über 4% höchstwahrscheinlich auch in den nächsten zwei Monaten anhalten wird, aber das untergräbt nicht das, was ich zuvor gesagt habe. Wir sollten auch nicht vergessen, dass die Inflation in den letzten drei Monaten des vergangenen Jahres negativ war, nämlich –0,3%. Dies ist ein weiterer statistischer Basiseffekt, der zu mehreren anderen hinzukommt, wie etwa der Mehrwertsteuer in Deutschland. Aber die meisten dieser Effekte werden im nächsten Jahr verschwinden.

Im EZB-Rat ist die Frage, ob die große Flexibilität des PEPP über sein Ende hinaus beibehalten werden soll, etwa in Bezug auf den Kapitalschlüssel oder Ankaufobergrenzen, heftig umstritten. Wie schätzen Sie das ein?

Die Flexibilität ist notwendig, um auf plötzliche Marktentwicklungen zu reagieren, die nicht durch die Fundamentaldaten unserer Volkswirtschaften gerechtfertigt sind. Die Märkte müssen nach den verschiedenen Kreditrisiken differenzieren, aber manchmal gehen sie darüber hinaus, wie wir in früheren Krisen gesehen haben. Die EZB als Hüterin des Euro und Verantwortliche für die Preisstabilität muss sich um eine unangemessene Fragmentierung der Märkte kümmern und eine wirksame Übertragung der einheitlichen Geldpolitik auf alle Länder sicherstellen.

Der Ton in Deutschland gegen die EZB und die EZB-Politik wird wieder schärfer. Wie gefährlich ist das für die EZB und für den Euro?

Es mag unterschiedliche Befindlichkeiten geben. Aber was zählen sollte, sind konkrete Ergebnisse, und die EZB hat eine solche Kritik nicht verdient. Seit der Einführung des Euro lag die durchschnittliche Inflation in allen Mitgliedsländern knapp unter 2%. Dieses Ergebnis ist besser als das, was Deutschland in den 20 Jahren vor der Einführung des Euro erreicht hat. Wenn die Inflation ab nächstem Jahr wieder zurückgeht, sollte sich die harsche Kritik wohl in Luft auflösen. Immerhin befürworten laut des jüngsten Eurobarometers 82 Prozent der Deutschen den Euro.

Die Fragen stellte

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