Ökonomen zur Geldpolitik

„Die EZB hat sicher mehr Zeit als die Fed“

Fünf Ökonominnen und Ökonomen erklären im Interview, ob die Notenbanken die Inflation unterschätzt haben, welche geldpolitischen Maßnahmen jetzt nötig sind und wie sich die Situation der EZB von derjenigen der Fed unterscheidet.

„Die EZB hat sicher mehr Zeit als die Fed“

Die Verbraucherpreisinflation liegt in den USA bei 6,2 % und im Euroraum bei 4,9 %. Haben die Fed und die EZB das Inflationsproblem unterschätzt – und tun sie das noch?

Olivier Blanchard, Professor MIT und Ex-Chefvolkswirt IWF: Ja, das haben sie, und zwar ganz besonders in den USA. Es war von Anfang an klar, dass das US-Konjunkturprogramm zu einer Überhitzung und möglicherweise zu einer erheblichen Inflation führen würde. Eine interessante Frage ist, warum die Fed das nicht kommen sah. Ein Teil der Antwort ist, dass sie zu sehr an eine flache Phillips-Kurve glaubte. Die Fed hat dies nun offensichtlich erkannt und ändert ihre Position. Es ist jedoch etwas spät.

Stefan Gerlach, Chefvolkswirt EFG Bank und Ex-Vize-Chef der irischen Zentralbank: Der Anstieg der Inflation in diesem Jahr ist zu einem großen Teil darauf zurückzuführen, dass sich die Ölpreise von ihrem Einbruch im März 2020 erholt haben, da das Wachstum weltweit zurückgekehrt ist. Natürlich könnte die Fed das Ausmaß unterschätzt haben, in dem die Fiskal­politik der Regierung Biden die Nachfrage ankurbeln würde und inwieweit die Konjunktur einige Arbeitnehmer davon abhalten würde, an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren, oder es ihnen unmöglich machen würde. Im Euroraum ist der Anstieg der Inflation viel weniger stark.

Elga Bartsch, Chefökonomin BlackRock: Die Notenbanken sind wie alle anderen Prognostiker von den aktuellen Inflationsraten überrascht worden. Viele Prognosemodelle sind während des außergewöhnlichen Neustarts der Wirtschaft wenig hilfreich. Der Neustart verläuft zudem sehr ungleichmäßig und das hat auch zu Engpässen auf der Angebotsseite geführt. In diesem Umfeld sollten sich Zentralbanken auf die mittlere Frist konzentrieren und etwaige Zweitrundeneffekte vermeiden.

Charles Goodhart, Ex-Mitglied MPC der Bank of England: Die Bilanz zeigt deutlich, dass die Fed, die EZB und die meisten anderen Zentralbanken die Inflation im Jahr 2021 stark unterschätzt haben. Sie wird wahrscheinlich im Jahr 2022 zurückgehen, aber tendenziell höher bleiben, als sie dann und in den Folgejahren erwarten.

Peter Praet, Ex-Chefvolkswirt EZB: Das Ausmaß des Preisdrucks und seine Ausweitung auf die Kerninflation haben die Zentralbanker überrascht. Während in den USA die mittelfristigen Inflationsrisiken eindeutig unterschätzt wurden, befindet sich die Eurozone immer noch in einem schwierigen Prozess, um einer „zu niedrigen Inflation für zu lange Zeit“ zu entkommen. Aber auch hier hat sich der zugrunde liegende Preisdruck schneller aufgebaut als erwartet. Dies könnte zu einer etwas schnelleren Normalisierung der Geldpolitik führen.

Wie schätzen Sie die mittel- und langfristigen Inflationsaussichten ein – steht die Inflation vor einem Comeback?

Blanchard: Einige der Preisspitzen werden sich wieder zurückbilden, so dass die Inflation Anfang 2022 für einige Zeit viel besser aussehen könnte. Aber ein angespannter Arbeitsmarkt und große Preissteigerungen können dazu führen, dass Arbeitnehmer höhere Löhne fordern und erhalten, wodurch eine Lohn-Preis-Spirale in Gang gesetzt wird und die Inflation schwerer zu kontrollieren ist. Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Fed reagieren und die Inflation eindämmen wird. Dies könnte jedoch auf Kosten hoher Zinsen geschehen.

Gerlach: Nein. Die Zentralbanken haben heute ein gesetzliches Mandat für Preisstabilität und in der Regel ein Inflationsziel von 2 %. Das ist etwas ganz anderes als in den 1970er und 1980er Jahren. Die Frage ist vielmehr, ob die Inflation von selbst auf etwa 2% zurückgeht oder ob die Zentralbanken die Geldpolitik straffen müssen. Länder mit starkem Wachstum wie die USA werden dies tun müssen, ebenso wie einige Schwellenländer mit abwertenden Währungen.

Bartsch: Die Inflation sollte auch nach dem Abklingen der Lieferengpässe höher bleiben als im Durchschnitt der letzten Jahre. Dies ist der neuen geldpolitischen Strategie der Fed geschuldet, insbesondere einer größeren Inflationstoleranz, dem ambitionierten Vollbeschäftigungsziel, aber auch zukünftigen Angebotsschocks, etwa durch den Klimawandel. Die EZB könnte erstmals seit der globalen Finanzkrise wieder in der Lage sein, in die Nähe ihres Preisstabilitätsziels zu gelangen.

Goodhart: Die Inflation wurde in den letzten Jahrzehnten durch starke demografische und globale Trends gebremst. Diese Trends kehren sich nun um, so dass die Inflation in den kommenden Jahrzehnten zu einem größeren Problem werden wird.

Praet: Die Zentralbanken haben außerordentliche Maßnahmen ergriffen, um die Inflationserwartungen wieder zu festigen. Sind sie zu weit gegangen? Es ist möglich, dass die Kombination aus einer sehr akkommodierenden Geldpolitik mit einer expansiven Finanzpolitik zu weit gegangen ist. Dies scheint in den USA der Fall zu sein; im Euroraum ist dies jedoch weit weniger der Fall. Da die Fiskalpolitik auch 2022 und sogar 2023 expansiv bleibt, könnte eine etwas weniger akkommodierende Geldpolitik in der Eurozone ratsam werden.

Die Coronavirus-Mutation Omikron schürt Konjunktursorgen. Droht in den USA und im Euroraum ein Ende des Aufschwungs? Wie schätzen Sie die mittelfristigen Wachstumsaussichten ein?

Blanchard: Es ist noch zu früh. Die politischen Entscheidungsträger haben gelernt, wie sie auf das Virus reagieren können, ohne dass dies allzu große Auswirkungen auf die Wirtschaftstätigkeit hat. Eine schwierigere Frage ist, wie die Menschen und Unternehmen auf die anhaltende Bedrohung durch die Covid-Gefahr reagieren und wie sich dies auf den Verbrauch und die Investitionen auswirkt. Im Moment würde ich die Prognosen nicht sehr stark nach unten korrigieren.

Gerlach: Ja, natürlich gibt es das. Nach drei Wochen Omikron scheint es jedoch so, als ob das Risiko dieses Mal nicht eintritt. Aber das Virus ist unberechenbar, und es können weitere Varianten auftreten. Solange die Impfraten weltweit so niedrig sind, wird die Unsicherheit groß bleiben.

Bartsch: Mittelfristig sollte das Wirtschaftswachs­tum in den wichtigsten Industrienationen wieder zu Raten zurückkehren, wie wir sie auch im Trend vor der Pandemie gesehen haben. Eventuell könnte der von der Pandemie beschleunigte Strukturwandel das Potenzial sogar leicht stärken. Die neue Covid-Variante wird den kompletten Neustart der Wirtschaft allerdings temporär verzögern. Dass sie ihn allerdings beendet, erscheint derzeit unwahrscheinlich.

Goodhart: Wir wissen immer noch nicht, wie ansteckend Omikron sein könnte. Wenn die Variante weniger ansteckend ist als frühere Stämme, wird die wirtschaftliche Verlangsamung auch nur vorübergehend sein.

Praet: Die Pandemie hat die systemischen Schwachstellen aufgezeigt. Die Stärkung der Widerstandsfähigkeit unserer Gesellschaft rückt zu Recht stärker in den Mittelpunkt der Politik. Dies bedeutet ein stärkeres Eingreifen der Regierung und einen hohen Finanzierungsbedarf. Entscheidend wird sein, ob die derzeitige „Große Transformation“ wachstumsfördernd sein wird. Die Antwort bleibt höchst spekulativ.

Sollte die Fed ihre Anleihe­käufe schneller zurückfahren und ihren Leitzins früher und deutlicher anheben als bislang in Aussicht gestellt?

Blanchard: Sie sollte sich so schnell wie möglich in diese Richtung bewegen. Das Tempolimit besteht darin, nicht zu schnell zu sein, um die Märkte nicht zu verschrecken. Ich denke auch, dass wir auf größere Zinserhöhungen vorbereitet sein müssen, als die Investoren oder die Fed erwarten. Die US-Wirtschaft ist nahe der Vollbeschäftigung, das Nachfragewachstum ist nach wie vor stark, und die Verlangsamung der Maschinerie könnte mehr als ein paar Hundert Basispunkte erfordern.

Gerlach: Ich denke, sie wird dies tun. Die Inflation ist in den USA stark angestiegen, und die Anleihemärkte könnten befürchten, dass die Fed zu langsam reagiert. Es besteht daher die Gefahr einer „Inflationsangst“ – eines starken und unerwarteten Anstiegs der Renditen langlaufender Anleihen, der die Nachfrage abwürgen würde. Das ist bisher noch nicht passiert, aber es könnte natürlich passieren. Eine Straffung der Geldpolitik wird dieses Risiko verringern.

Bartsch: Es ist davon auszugehen, dass das FOMC in dieser Woche einen schnelleren Ausstieg aus den Anleihekäufen ankündigt, um sich die Option offenzuhalten, bereits Mitte des nächsten Jahres in die Normalisierung der Geldpolitik einzusteigen. Das Tempo der Zinserhöhungen wird aber deutlich geringer sein als in der Vergangenheit – vor allen Dingen vor dem Hintergrund der auch mittelfristig steigenden Inflationsraten in den USA.

Goodhart: Die Fed ändert nun ihre Politik und wird ihre Anleihekäufe schneller drosseln als bislang angekündigt und auch ihren Leitzins schneller als bisher erwartet anheben.

Praet: Die Straffung der US-Geldpolitik wird wahrscheinlich schneller erfolgen als derzeit erwartet. Dies hätte erhebliche Spillover-Effekte auf den Rest der Welt, insbesondere auf die Schwellenländer. Die Eurozone sollte ihre Geldpolitik von den USA abkoppeln können, wäre aber dennoch von einer allgemeinen Neubewertung der Risiken betroffen.

Sollte die EZB den Ausstieg aus der ultralockeren Geldpolitik entschlossener angehen, oder hat sie tatsächlich mehr Zeit als die Fed?

Blanchard: Sie hat mehr Zeit als die Fed. Die fiskalischen Anreize waren viel geringer. Die Produktionslücken bleiben negativ. Ein Großteil der Inflation spiegelt einen Anstieg der Rohstoffpreise wider, der auf weltweiter Ebene bestimmt wird und nicht durch spezifischen Druck im Inland. Es gibt keine Anzeichen für einen starken Anstieg der Löhne. Ich glaube, dass die EZB den Kurs vorerst beibehalten kann, wobei sie sich jedoch des Risikos einer schnelleren Anpassung bewusst ist.

Gerlach: Sie hat sicher mehr Zeit als die Fed. Die durchschnittliche Inflationsrate im Euroraum liegt seit September 2008, als Lehman Brothers zusammenbrach, bei 1,3 %. Das war vor 13 Jahren. Damit liegen die Preise heute 7 bis 8 % niedriger, als es das alte EZB-Ziel einer Inflation „unter, aber nahe 2 %“ erwarten ließ. Es ist gut, sich über eine steigende Inflation Sorgen zu machen, aber das Problem war in den letzten zehn Jahren genau das Gegenteil.

Bartsch: Im Gegensatz zu den USA sollte die Inflation im Euroraum mittelfristig unter der Zielmarke von 2% liegen. Daher ist, trotz der aktuell starken Verwerfungen, die Inflation im Trend immer noch eher zu niedrig als zu hoch. Die EZB hat somit nicht nur mehr Zeit als die Fed, sie muss auch mit einem Überschwappen der höheren US Zinsen rechnen. Gleichzeitig muss sie die Inflationserwartungen im Auge behalten und ggf. reagieren können, sollten diese aus dem Ruder laufen.

Goodhart: Die EZB hat zwar mehr Zeit als die US-Notenbank, sie wird aber ihre Politik wesentlich schneller straffen müssen als jetzt geplant.

Praet: Die zeitliche Dimension der Normalisierung ist eindeutig anders als in den USA. Die geldpolitische Divergenz wird jedoch nicht leicht zu handhaben sein. Was sich jedoch in der Eurozone seit dem Covid­Schock grundlegend geändert hat, ist die Rolle der Finanzpolitik bei der makroökonomischen Stabilisierung. Mit dem sich aufbauenden Preisdruck könnte es mit der Zeit zu Spannungen zwischen Geld- und Fiskalpolitik kommen.

Die Fragen stellte Mark Schrörs.

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