IM GESPRÄCH: CATHERINE MANN

"Die Finanzmärkte haben sich abgekoppelt"

OECD-Chefvolkswirtin drängt Zentralbanken zu größerem Fokus auf Exzesse - EZB soll "vom Gaspedal gehen" - Deutschland muss "Selbstzufriedenheit" vermeiden

"Die Finanzmärkte haben sich abgekoppelt"

Von Mark Schrörs, FrankfurtOECD-Chefvolkswirtin Catherine Mann hat die Zentralbanken weltweit aufgefordert, jetzt sehr viel mehr die negativen Folgen der ultralockeren Geldpolitik für die Finanzmärkte und die Finanzstabilität in den Fokus zu nehmen. “Die Zentralbanken sollten sich jetzt stärker Sorgen über die negativen Effekte der sehr expansiven Geldpolitik machen, über die finanziellen Ungleichgewichte und Verwundbarkeiten, die diese Politik hervorbringt”, sagte Mann der Börsen-Zeitung. Die Finanzmärkte hätten sich von der Realwirtschaft “abgekoppelt”, warnte sie. Fed sollte “Luft ablassen”Konkret legte sie der US-Notenbank Fed eine baldige weitere Zinserhöhung nahe. Eine Anhebung des Schlüsselsatzes um 25 oder 50 Basispunkte würde die Realwirtschaft aktuell kaum vor große Probleme stellen, könnte aber “etwas Luft ablassen” aus den Finanzmärkten, speziell den Aktienmärkten, argumentierte sie. Die Europäische Zentralbank (EZB) sollte laut Mann jetzt die Chance nutzen, “etwas vom geldpolitischen Gaspedal zu gehen”. Die wirtschaftliche Lage sei besser als erwartet. Die EZB sollte ihre Anleihekäufe (Quantitative Easing, QE) bis Ende 2018 beenden, so Mann.Mit ihren Aussagen heizt Mann die Debatte über mögliche neue Finanzrisiken und -exzesse sowie die Verantwortung und Rolle der Zentralbanken an. Zuletzt hatte es immer mehr prominente Warnungen vor neuen Blasen und Finanzexzessen gegeben. Unlängst hatte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) mit seiner Warnung wegen der hohen Schulden und enormen Liquidität weltweit aufhorchen lassen.OECD-Chefvolkswirtin Mann ließ in dem Gespräch am Rande der Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds (IWF) keinen Zweifel daran, dass es aus Sicht der Industrieländerorganisation gefährliche Entwicklungen an den internationalen Finanzmärkten gibt. Die OECD warne schon länger vor einer Abkopplung der Märkte von der Realwirtschaft – “und das gilt heute mehr denn je”, sagte Mann: “Die Aktienmärkte haben sich von den Fundamentaldaten entkoppelt. Die Aufmerksamkeit gegenüber Kreditrisiken ist unzureichend. Es gibt keine realistische Einschätzung der langfristigen Inflationsprämien. Es gibt seit langer Zeit an den Finanzmärkten insgesamt eine Fehlbewertung von Risiken.”Mann betonte, dass die Geldpolitik stets die richtige Balance finden müsse zwischen den positiven Effekten auf die Realwirtschaft und den möglichen negativen Folgen auf die Finanzmärkte. Zugleich betonte sie aber: “Die Balance hat sich zuletzt verschoben.” Darauf weise die EZB seit fast einem Jahr hin. Die Zentralbanken dürften deshalb nicht nur auf die Wirtschaftsentwicklung und die Inflation schauen, sondern müssten deutlich stärker auch die Folgen für die Finanzstabilität berücksichtigen.Mit Blick auf die Fed sagte Mann, dass diese ihren Leitzins im September hätte erhöhen können. “Eine Zinserhöhung um 25 oder 50 Basispunkte würde aktuell für die Finanzierungsbedingungen der Realwirtschaft keinen großen Unterschied machen. Ein solcher Schritt könnte aber ein wenig Luft aus den Finanzmärkten lassen, vor allem aus den Aktienmärkten”, sagte Mann: “Das wäre keine schlechte Sache.” Die US-Notenbank hatte ihren Leitzins im September bei 1,0 % bis 1,25 % belassen. Die große Frage ist nun, ob sie im Dezember eine weitere Zinserhöhung wagt. Die Fed signalisiert einen solchen Schritt, allerdings gibt es auch Notenbanker, die warnen.Was die EZB betrifft, hat Mann ebenfalls eine klare Meinung: “Die EZB hat Spielraum, etwas vom geldpolitischen Gaspedal zu gehen, und sie kann den Expansionsgrad ein wenig herunterfahren.” Die wirtschaftlichen Daten im Euroraum seien zuletzt etwas stärker gewesen als erwartet. “Als OECD haben wir vorgeschlagen, dass die Anleihekäufe Anfang 2018 reduziert werden und Ende 20118 beendet sein sollten”, sagte sie. Es gelte aber auch zu berücksichtigen, dass die EZB verglichen mit anderen Zentralbanken erst spät entschlossen reagiert habe und der Konjunkturzyklus im Euroraum jenem in den USA und andernorts um einige Jahre hinterherhinke. EZB-Entscheidung vorausDie EZB will am 26. Oktober zentrale Weichenstellungen für die ultralockere Geldpolitik und speziell QE im Jahr 2018 vornehmen. Die Euro-Hüter stecken in einem Dilemma: Während der Wirtschaft 2017 das stärkste Wachstum seit 2007 winkt, kommt die Inflation nicht wie erhofft in Gang. Aktuell liegt sie bei 1,5 %. Die EZB strebt auf mittlere Frist unter, aber nahe 2 % an. Die EZB steuert nun auf eine Strategie des “Lower for longer” zu. Demnach würde das monatliche QE-Kaufvolumen ab Januar 2018 erheblich reduziert, das Programm dafür aber deutlich verlängert (vgl. BZ vom 14. Oktober).Mann betonte, dass die Zentralbanken aus ihrer Sicht aktuell “alles in allem sehr verantwortlich und angemessen” agierten, gemessen an den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. “Wir sollten die aktuelle Geldpolitik nicht mit früheren Zyklen vergleichen oder frühere Straffungszyklen als Referenzpunkt für den aktuellen Kurs betrachten”, sagte sie: “Die Lage heute ist komplett anders.” Die Weltwirtschaft komme aus einer Weltfinanzkrise und einem Jahrzehnt, in dem die Zentralbanken sehr aggressiv auf eine sehr schwierige Phase reagiert hätten. “Die Kehrtwende hat Zeit benötigt und sollte nicht überstürzt werden”, so Mann.Ein großes Rätsel für Notenbanker wie Ökonomen ist derzeit, warum trotz guten Wachstums und extrem lockerer Geldpolitik die Inflation und vor allem die Löhne nicht anziehen. Das erforscht auch die OECD intensiv. “Die niedrige Inflation hat verschiedene Gründe, temporäre und strukturelle, auf der Nachfrage- und auf der Angebotsseite”, sagte Mann nun. “Auf der Nachfrageseite beispielsweise dämpfen berechtigte Sorgen um die Beschäftigung die Lohnforderungen, selbst dort, wo es Mindestlöhne gibt.” Auf der Angebotsseite dämpfe beispielsweise in den USA der Druck auf die Gesundheitskosten die Inflation, und im Euroraum trage der Wettbewerb bei den Dienstleistungen wesentlich dazu bei.Die anhaltend niedrige Inflation hat in Notenbankkreisen eine Debatte ausgelöst, ob das weit verbreitete 2-Prozent-Inflationsziel noch angemessen ist oder angepasst gehört. Einige Experten votieren für ein niedrigeres Ziel, weil Faktoren wie Globalisierung und technologischer Fortschritt strukturell auf die Preise drückten. Viele andere dagegen votieren für ein höheres Ziel von 3 % oder 4 %, weil die Zentralbanken auch angesichts eines demnach gesunkenen realen Gleichgewichtszinses sonst immer zu schnell an die Zinsuntergrenze stoßen würden. EZB-Inflationsziel als ProblemMann hält von solchen Überlegungen wenig und warnt vor einem Antasten des etablierten 2-Prozent-Ziels: “Wenn eine Zentralbank ihr Ziel nicht erreicht, ist es nicht die richtige Strategie, einfach das Ziel zu ändern. Da geht es auch um das Mandat und die Glaubwürdigkeit”, sagte sie und fügte hinzu: “Wenn man ein symmetrisches Inflationsziel von 2 % hat, ist es überhaupt kein Problem, auch mal 3 % oder 4 % Inflation zu tolerieren, wenn man anschließend auch wieder unterhalb der 2 % landet. Es braucht keine höheren Inflationsziele, sondern mehr Flexibilität mit Blick auf das mittelfristige 2-Prozent-Ziel und weniger aufgeregte Feinsteuerung.”Mann sieht da allerdings ein Problem mit dem Ziel der EZB. “Die EZB leidet darunter und ist dadurch eingeschränkt, dass sie ein asymmetrisches Inflationsziel hat”, sagte sie. Laut Definition strebe die EZB zwar nahe 2 % an, aber eben auch unter 2 %. “Das Regime der EZB ist damit tendenziell disinflationär oder gar deflationär”, so Mann: “Die EZB hätte mehr Flexibilität und Handlungsspielraum, wenn sie ein symmetrisches Ziel hätte. Wenn das geändert würde, wäre das eine gute Sache.” Die Euro-Notenbanker argumentieren stets, ihr Ziel sei symmetrisch. Allerdings räumen einige ein, dass die Definition eine gewisse Asymmetrie beinhalte. Vor einer ernsthaften Diskussion über ihr Inflationsziel scheut die EZB aber derzeit zurück. Wichtigere Rolle für ESMMit Blick auf die Debatte über die Zukunft Europas und der Eurozone sowie Vorschläge von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron für unter anderem einen großen Euro-Haushalt und einen Euro-Finanzminister zeigte sich Mann zurückhaltend. “Eine komplett gemeinsame Fiskalpolitik im Euroraum erscheint politisch nicht umsetzbar.” Es gebe aber Wege, besser mit den Herausforderungen für die gemeinsame Währungsunion umzugehen, wie etwa asymmetrische Schocks. “Der ESM könnte eine zentrale Rolle spielen”, so Mann: “Wichtig wäre es, für mehr Klarheit zu sorgen, unter welchen Bedingungen er eingreifen darf.”Mann erinnerte daran, dass es in Europa und dem Euroraum bereits “einige große gemeinsame Geldtöpfe” gebe – wie etwa den Agrarhaushalt oder die Kohäsionsfonds. “Es braucht also nicht unbedingt einen neuen großen gemeinsamen Haushalt auf Ebene der EU oder der Eurozone”, sagte Mann: “Die Frage ist, wie solche Gelder bei verschiedenen Schocks in verschiedenen Ländern eingesetzt werden können.” Sie fügte hinzu: “Die bloße Existenz einer einzelnen Person wie eines Euro-Finanzministers würde das Koordinierungsproblem nicht automatisch lösen.” Auch in Deutschland sehen viele einen großen Euro-Haushalt und einen Euro-Finanzminister skeptisch. Lackmustests für EuropaDie Spannungen rund um Katalonien und die festgefahrenen Gespräche über den EU-Austritt Großbritanniens treiben auch Mann um. “Die politischen Risiken in Europa waren wahrscheinlich nie ganz verschwunden. Jetzt haben wir die Krise in Spanien und zunehmende Sorgen vor einem harten Brexit. Das führt zu Unsicherheit und Unsicherheit ist nie gut fürs Geschäft”, sagte sie. Bislang seien die Erwartungen der Unternehmen trotz aller politischen Unsicherheit robust geblieben: “Die große Frage ist jetzt, ob die harten Daten Schritt halten und ob insbesondere die Investitionen anziehen.”Für besonders viele Diskussionen und teils auch Ängste in Europa und im Euroraum sorgt aktuell die anstehende Wahl in Italien im Frühjahr 2018 und ein mögliches politisches Chaos danach. “Ein robusteres Europa würde sicher die Chancen eines positiven Wahlausgangs erhöhen und könnte gar einen positiven Kreislauf in Gang setzen.”Mann appellierte eindringlich an Deutschland und eine neue Bundesregierung, nicht die Hände in den Schoß zu legen. “Deutschland darf nicht in Selbstzufriedenheit verfallen, nur weil die Wirtschaft vor Stärke strotzt”, sagte sie: “Das ist genau die richtige Zeit, nötige Reformen anzugehen.” Deutschland müsse etwa dringend die Arbeitsmöglichkeiten für Frauen verbessern. Da gehe es um bessere Kinderbetreuung und die richtige Steuerpolitik. “Es gibt mehr fiskalischen Spielraum als viele Leute realisieren. Wenn dieser richtig genutzt wird, könnte er auch das Potenzialwachstum erheblich erhöhen”, sagte Mann. Auch der IWF drängt Berlin immer wieder zu mehr öffentlichen Investitionen, aber Berlin ist skeptisch.”Deutschland muss zudem mehr Kraft und Geld in die Digitalisierung stecken, vor allem in die Industrie 4.0. Deutschland hinkt da hinterher”, sagte Mann. Nötig sei zudem eine weitere Liberalisierung bei den Dienstleistungen. Das habe das Potenzial, auch die Produktivität zu verbessern. “Sorgen vor einem Überhitzen der deutschen Wirtschaft sind aktuell überzogen”, sagte Mann: “Entscheidend ist, dass alle Maßnahmen, auch die fiskalpolitischen, darauf abzielen, das Potenzialwachstum und die Produktivität zu steigern.”