„Die Geldpolitik der EZB ist seit vielen Jahren unangemessen straff“
Herr Professor Orphanides, die Euro-Wirtschaft steht vor einer kräftigen Erholung von der dritten Coronawelle und die Inflation zieht stark an. Ist eine expansive Geldpolitik wie zur Hochphase der Coronakrise noch angemessen?
Es ist eine gute Nachricht, dass sich das Wachstum verbessert hat und die Inflation vorübergehend gestiegen ist. Leider korrigiert der aktuelle Inflationsschub den massiven deflationären Schock des vergangenen Jahres nur teilweise. Die Inflationsprognose für die nächsten zwei bis drei Jahre bleibt zu niedrig, deutlich unter 2%. Dies impliziert, dass die EZB nicht so viel geldpolitische Akkomodierung bereitgestellt hat, wie als Reaktion auf die Pandemie nötig gewesen wäre, um das Preisstabilitätsmandat so gut wie möglich zu erfüllen. Die EZB sollte in den kommenden Monaten mehr geldpolitische Unterstützung bereitstellen, nicht weniger.
Es wäre also verfrüht, das im zweiten Quartal zeitweise erhöhte Kauftempo beim PEPP-Programm jetzt schon wieder zu drosseln und bereits das Ende von PEPP ins Visier zu nehmen?
Ich denke, das Problem geht über PEPP hinaus. Die Frage ist, ob die EZB die Ankäufe von Vermögenswerten richtig kalibriert hat, um ihr Mandat zu erfüllen. Es ist offensichtlich, dass die Geldpolitik der EZB über viele Jahre hinweg unangemessen straff war. Es sei daran erinnert, dass die EZB-Politik die durchschnittliche Inflation in den vergangenen zehn Jahren bei lediglich 1% gehalten hat. Da es bei den Leitzinsen Grenzen gibt, ist es für die EZB entscheidend, die Ankäufe von Vermögenswerten systematischer zu betreiben, um die Inflation in Richtung 2% zu lenken. Dies erfordert ein hohes Tempo bei den Käufen von Vermögenswerten.
Die EZB will unter allen Umständen steigende Euro-Anleiherenditen verhindern. Aber sind höhere Renditen nicht die logische Folge des verbesserten Wirtschafts- und Inflationsausblicks und folglich eher willkommen?
In der Tat sollte man bei einer guten Politik erwarten, dass die Renditen bei einer vollständigen wirtschaftlichen Erholung, die die Inflation auf 2% zurückbringt, steigen. Aber die Wirtschaft des Euroraums ist sehr weit von diesem Zustand entfernt. Die EZB liegt richtig in der Einschätzung, dass die längerfristigen Renditen unter den derzeitigen Umständen niedrig bleiben müssen. Ein Anstieg der Renditen zum jetzigen Zeitpunkt würde das Wachstum und die Beschäftigung bremsen und die Fähigkeit der EZB beeinträchtigen, ihr Mandat zu erfüllen.
Richtet die EZB ihre Geldpolitik also nicht zu sehr an den Bedürfnissen der Staaten aus? Die Ex-EZB-Chefvolkswirte Otmar Issing und Jürgen Stark sehen die EZB bereits gefangen in einem Regime der fiskalischen Dominanz.
Die Sorge um fiskalische Dominanz ist berechtigt, wenn eine Zentralbank eine hohe Inflation anstrebt. Stattdessen hat die EZB in den vergangenen zehn Jahren das Gegenteil getan. Sie hat das verfolgt, was EZB-Präsidentin Christine Lagarde im Jahr 2014, damals als Chefin des IWF, als „Low-Flation“, also niedrige Inflation bezeichnet hat. Sicherlich hat die Geldpolitik fiskalische Konsequenzen. Wenn die EZB die Geldpolitik lockert, sinken beispielsweise die Kosten für die Refinanzierung der Staatsschulden. Aber in einem „Low-Flation“-Umfeld ist dies ein willkommener Nebeneffekt einer angemessenen Geldpolitik, es ist kein Zeichen fiskalischer Dominanz.
Die EZB ist sich absolut sicher, dass die Inflation nur temporär anzieht. Aber besteht nicht auch die Gefahr, das Inflationspotenzial zu unterschätzen – wie in den 1970er Jahren?
Eine gute Politik sollte immer die Gefahren auf beiden Seiten berücksichtigen – also sowohl eine Überschätzung als auch eine Unterschätzung des Inflationsdrucks. In den vergangenen zehn Jahren hat die EZB eine klare Tendenz zu einer zu niedrigen Inflation gezeigt. Und die Zinspolitik der EZB ist limitiert, was Lockerungen angeht, sie hat aber keine ähnlichen Grenzen bei einer Straffung. Die größere Gefahr besteht nicht darin, dass die Inflation zu hoch ist, sondern darin, dass die EZB weiterhin Fehler macht, die die Inflation zu niedrig halten – mit erheblichen Kosten in Form von Wachstumsverlusten und hoher Arbeitslosigkeit.
Bei der EZB-Strategieüberprüfung scheint es auf ein neues Inflationsziel von genau 2% hinauszulaufen, wobei die Symmetrie klar betont werden soll. Die Fed hat dagegen explizit ein durchschnittliches Inflationsziel implementiert, inklusive Überschießen des Ziels nach einem Unterschießen. Wie sollte die EZB aus Ihrer Sicht ihr Ziel definieren?
Die Verabschiedung eines symmetrischen Inflationsziels von 2% ist längst überfällig. Die wirtschaftlichen Ergebnisse im Euroraum wären in den vergangenen zehn Jahren deutlich besser ausgefallen, wenn die EZB dieses Ziel früher eingeführt hätte, so wie es alle anderen großen Zentralbanken der Industrieländer getan haben. Um glaubwürdig zu sein und die Erwartungen gut zu verankern, sollte die Politik darauf abzielen, im Zeitverlauf eine durchschnittliche Inflationsrate von 2% zu erreichen. Ein klares 2-Prozent-Ziel würde die kostspieligen Unklarheiten des derzeitigen EZB-Ansatzes beseitigen und helfen, die politischen Fehler zu vermeiden, die zu einer „Low-Flation“ geführt haben. Ein symmetrisches 2-Prozent-Ziel wird nicht nur die Wachstums- und Beschäftigungsergebnisse verbessern, sondern auch dazu beitragen, die Unabhängigkeit der EZB zu schützen und ihre Rechenschaftspflicht zu verbessern.
Sollte die EZB künftig neben der Preisstabilität mehr Gewicht auf andere Politikziele wie Wirtschaftswachstum, Beschäftigung oder auch Klimawandel legen?
Neben der Preisstabilität weist der EU-Vertrag die EZB an, zu anderen hehren Zielen der Union beizutragen. Die EZB sollte ihre Strategie verbessern, um ihren Auftrag besser als in der Vergangenheit zu erfüllen. Aber nur einige sekundäre Ziele sind mit der orthodoxen Geldpolitik vereinbar. So sind beispielsweise die Ziele „ausgewogenes Wirtschaftswachstum“, „Vollbeschäftigung“ und „wirtschaftlicher Zusammenhalt“ eng mit der Preisstabilität verbunden, und die EZB sollte diese Ziele stärker in den Vordergrund stellen. Dies würde der EZB auch helfen, ihr Preisstabilitätsmandat überall im Euroraum zu erfüllen. Andere Ziele wie die „Umweltqualität“ oder der „wissenschaftliche und technische Fortschritt“ haben allenfalls einen vagen Bezug zur Geldpolitik und sollten besser direkt von den Regierungen mit fiskal- und strukturpolitischen Maßnahmen angegangen werden, da ihre Verfolgung erhebliche Verteilungseffekte haben kann.
In Deutschland steht die EZB-Politik immer wieder heftig in der Kritik und sie landet immer wieder vor dem Bundesverfassungsgericht. Wie sehr schränkt das den Handlungsspielraum der EZB ein?
In einer Währungsunion kann die gemeinsame Geldpolitik nicht für jeden Staat ideal sein, sondern muss so festgelegt werden, dass sie für alle am besten geeignet ist. Es würde dem Geist und dem Buchstaben des Vertrages widersprechen, wenn Kritik oder ein Verfahren vor einem nationalen Gericht die Politik der EZB zugunsten nur eines Staates beeinflussen würde. Der Europäische Gerichtshof ist für die EZB zuständig. Wenn die EZB unabhängig agieren würde, wie sie es sollte, dürften Kritik oder nationale Gerichtsverfahren keinen Einfluss auf die Politik der EZB haben. Der Anschein eines solchen Effekts würde ein großes Versagen der Union und ihrer Institutionen darstellen.
Die Fragen stellte Mark Schrörs.