Die Stunde der Falken bei der EZB
Die US-Notenbank Federal Reserve hat es vorgemacht – nun ist es an der Europäischen Zentralbank (EZB) nachzuziehen. Die Fed hat zweimal nacheinander den Leitzins um 75 Basispunkte erhöht, und sie schickt sich an, dies in drei Wochen ein weiteres Mal zu tun. Die EZB sollte diesem Beispiel folgen und ihre Zinswende, die sie im Juli mit einem halben Prozentpunkt und der Abschaffung des Negativzinses begonnen hat, nächste Woche beschleunigen. Wenn nicht jetzt, wann dann?
Die Inflation ist mit 9,1% rekordhoch. Sie wird dort nicht haltmachen, sondern Kurs auf 10% nehmen. Das ist nicht mehr nur Folge des Energieschocks. Die Verbraucherpreise setzen sich auf breiter Front vom mittelfristigen EZB-Inflationsziel von 2% ab. Das verdeutlicht der Anstieg der Kernrate auf 4,3%: Hier sind die Hauptpreistreiber Energie und Nahrungsmittel außen vor.
Noch sind die Inflationserwartungen halbwegs stabil. Doch sie werden sich mit jedem weiteren Wert in dieser Größenordnung stärker aus ihrer viel beschworenen Verankerung lösen – zumal zweistellige Teuerungsraten auf uns zukommen. Für die EZB steigt von Monat zu Monat das Risiko, die Kontrolle nicht nur über die tatsächliche Inflation, sondern – gefährlicher noch – über die Inflationserwartungen in der Bevölkerung und an den Märkten zu verlieren. Das kann keine Notenbank, die ihren Auftrag der Preisstabilität ernst nimmt, tolerieren.
Die EZB ist weder ohnmächtig noch handlungsunfähig, auch wenn die Energiepreise nicht in ihrer Macht stehen. Sorgen vor einer Rezession, so berechtigt sie angesichts von Krieg und Energiekrise sind, dürfen in der jetzigen Phase keine Ausrede sein. Das wäre wohlfeil: Die Geldpolitik in der Eurozone ist noch immer ein gutes Stück entfernt von Bereichen, in denen sie der Wirtschaft Schwung nimmt. Dem widersprechen nicht einmal Verfechter einer eher lockeren Geldpolitik, die sogenannten Tauben. Man kann nur schätzen, wo der sogenannte neutrale Zins liegt – jenes Niveau, das die Wirtschaft geldpolitisch weder stimuliert noch bremst. Luft für zwei bis drei kräftige Zinserhöhungen ist bis dahin allemal.
Es ist die Stunde der Falken. Die Verfechter einer eher straffen Geldpolitik um Bundesbankchef Joachim Nagel – im EZB-Rat üblicherweise in der Minderheit – bestimmen die Schlagzeilen. Dass sie eine Debatte über 75 Basispunkte forcieren, könnte auch taktische Gründe haben: als Verhandlungsmasse, um dem kleinlauten, aber großen Lager der Tauben um EZB-Chefvolkswirt Philip Lane Zugeständnisse abzuringen. Das mag perspektivisch den Rückbau der billionenschweren Bilanz oder den überaus vorteilhaften Zugang der Banken zu Liquidität betreffen.
Lane schwebt eine Art Zins-Autopilot von einem halben Prozentpunkt vor. Damit ist es angesichts des akuten Inflationsproblems aber nicht getan. Auch das Argument, die stärkere Verfassung der US-Wirtschaft lasse der Fed mehr Spielraum als der EZB, greift immer weniger. Die Arbeitsmärkte strotzen allen Widrigkeiten zum Trotz auch in weiten Teilen der Eurozone vor Kraft und sorgen für Druck im Lohnkessel. Außerdem ist die Fed nicht nur mit dem fortgeschrittenen Zyklus an Zinserhöhungen weiter, sondern auch mit dem Abbau ihrer aufgeblähten Bilanz. Die EZB darf nicht noch mehr den Anschluss verlieren.