„Die Ukraine wird viel privates Kapital benötigen“
Von Andreas Heitker, Berlin
Um private Investitionen in der Ukraine anzukurbeln und so die Wirtschaft des Landes und insbesondere den Wiederaufbau zu unterstützen, sollten westliche Staaten über eine bessere Absicherung dieser Investments nachdenken. Im Gespräch mit der Börsen-Zeitung verwies die Chefvolkswirtin der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD), Beata Javorcik, darauf, dass internationale Organisationen die Kosten für den Wiederaufbau der Ukraine schon im vergangenen Jahr auf 350 Mrd. Euro geschätzt haben. „Diese Summe dürfte mittlerweile höher liegen“, betonte sie. „Das ist viel Geld. Die Ukraine wird daher nicht nur staatliche Hilfen, sondern auch viel privates Kapital für den Wiederaufbau benötigen.“
Der private Sektor werde aber nicht investieren, wenn noch Bomben fielen, so Javorcik. „Wir brauchen daher eine Art Versicherung für private Investitionen.“ Diese könne auf verschiedene Art und Weise organisiert werden: entweder über nationale Regierungen für ihre jeweiligen Unternehmen oder auch auf europäischer Ebene.
Nach den Worten von Javorcik werden für den Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg drei Punkte entscheidend sein: ein stabiler Frieden, institutionelle Verbesserungen sowie Geld. Das Geld werde dabei wohl noch am leichtesten zu organisieren sein, prognostizierte sie. Die institutionellen Verbesserungen würden insbesondere im Zuge der Annäherung des Landes an die EU ebenfalls machbar sein. „Einen stabilen Frieden zu erreichen, der kein eingefrorener Konflikt ist, dürfte die größte Herausforderung sein.“
BIP-Einbruch vorerst gestoppt
Javorcik verwies darauf, dass der Wiederaufbau von Ländern, die von Kriegen betroffen sind, sehr lange dauern kann. „Unsere Analysen zeigen, dass in etwa der Hälfte der Fälle die betroffenen Länder auch 25 Jahre nach Kriegsende noch nicht wieder ein Bruttosozialprodukt (BIP) pro Kopf erwirtschaften wie vergleichbare andere Länder, die nicht von einem Krieg betroffen waren.“
Laut einer von der EBRD im November vorgelegten Studie, die die Auswirkungen von Kriegen und die Erholung nach Kriegen in den vergangenen zwei Jahrhunderten untersucht, brach das Pro-Kopf-BIP in den betroffenen Ländern in einem „typischen Fall“ lediglich um 9% ein – teilweise aber auch um 40% bis 70%, während die Erholung im Anschluss sehr unterschiedlich ausfiel. In rund 30% der Fälle kehrte das Pro-Kopf-BIP innerhalb von fünf Jahren auf das in Vergleichsländern ohne Krieg beobachtete Trendniveau zurück. Aber in fast 50% aller Fälle blieb es auch 25 Jahre nach dem militärischen Konflikt unter diesem Niveau. Der Wiederaufbau war demnach besonders schwierig, wenn der Frieden brüchig war.
In der Ukraine ist das BIP nach Angaben der in London ansässigen Förderbank im vergangenen Jahr im Zuge des russischen Einmarsches um 29% gesunken. „Für 2023 erwartet die EBRD eine Stabilisierung und sogar ein kleines Wachstum von 1%. Trotzdem ist die Situation für die Wirtschaft der Ukraine immer noch sehr herausfordernd“, so Javorcik.
„Aktuell betreffen die Kämpfe zwar nur noch ein Gebiet, in dem 20% des ukrainischen BIP erwirtschaftet wird“, so die Ökonomin. Im vergangenen Jahr seien es noch 60% gewesen. „Aber auch, wenn das Gebiet, auf dem die militärischen Auseinandersetzungen stattfinden, kleiner geworden ist: Es gibt keinerlei Quellen für Wachstum“, stellt Javorcik im Gespräch klar. Alle finanziellen Ressourcen flössen in Notfallreparaturen. Und natürlich fehle auch der Konsum, was auch an den rund 8 Millionen Flüchtlingen liege, die das Land verlassen hätten.
EBRD strebt wichtige Rolle an
Der nach dem Krieg anstehende Wiederaufbau der Ukraine mit Hilfe des Westens ist nach Einschätzung von Javorcik auch ein Teil eines Kampfes zweier Systeme – ähnlich wie nach dem Zweiten Weltkrieg, als die USA den Marshallplan installiert haben. „Durch die Unterstützung der Ukraine zeigen wir auch, dass die liberale Demokratie gute und effektive Lösungen produzieren kann.“
Die EBRD will beim Wiederaufbau der Ukraine ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. „Wir waren schon vor dem Krieg der größte institutionelle Investor im Land mit knapp 100 Mitarbeitern vor Ort“, sagt Javorcik. Im vergangenen Jahr investierte die Bank 1,7 Mrd. Euro in der Ukraine – 60% der Risiken nahm sie in die eigenen Bücher.