„Die US-Geldpolitik sollte uns nicht so stark beeinflussen“
„US-Geldpolitik sollte uns nicht so stark beeinflussen“
Frankreichs Notenbankpräsident schlägt drei Kompasse für die künftige Geldpolitik der EZB vor und spricht sich gegen Forward Guidance aus
François Villeroy de Galhau warnt im Interview der Börsen-Zeitung davor, die Geldpolitik der EZB zu spät zu lockern. Auf eine Zinssenkung im Juli will er sich nicht festlegen, betrachtet sie aber als Option. Außerdem spricht er darüber, welche Faktoren die Geldpolitik demnächst besonders beeinflussen könnten.
Herr Villeroy de Galhau, das Lohnwachstum in der Eurozone ist noch immer hoch. Wie groß ist die Gefahr, dass die Inflation deshalb länger als angenommen über 2% liegen wird?
Wir haben eine Lohn-Preis-Spirale in der Eurozone deutlich vermeiden können. Bei den Reallöhnen gibt es Nachholbedarf, weswegen sie nun steigen. Denn in den ersten beiden Jahren des Inflationsschubs gingen die Reallöhne deutlich zurück. Die jüngsten Lohnzahlen für das erste Quartal zeigen eine vorübergehende nominale Beschleunigung, die jedoch vor allem an Deutschland liegt und hauptsächlich auf einmalige Zahlungen zurückzuführen ist. In allen anderen großen europäischen Volkswirtschaften verlangsamt sich der Anstieg der Nominallöhne. Mit Blick auf Frankreich gehen wir davon aus, dass die jährlichen Steigerungen des Durchschnittslohns im Zeitraum 2024–2026 leicht über 3% liegen werden, verglichen mit einer Inflationsrate von 2,5% in diesem Jahr und weniger als 2% in den nächsten Jahren. Diese Zahlen sind nicht alarmierend. Und bei Preisen geht es nicht nur um Löhne, sondern auch um Produktivität und Gewinnmargen. Wir sollten also nicht nur eines dieser drei Elemente bewerten: Bei unseren zukünftigen Entscheidungen sollten wir vielmehr direkt auf das Ergebnis achten, insbesondere auf die Inflation im Dienstleistungssektor.
Die Lage im Nahen Osten stellt ein weiteres Risiko dar. Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass sie eskaliert und die Energiepreise deutlich nach oben treibt?
Offensichtlich bestehen geopolitische Risiken. Bisher hatten die Spannungen im Nahen Osten keinen großen Einfluss auf den Ölpreis: Er liegt immer noch unter seinem Niveau vom 7. Oktober. Nehmen wir dennoch mal an, dass es zu einem Ölpreisschock kommen würde. Es sollte keine automatische geldpolitische Reaktion geben, da wir prüfen müssten, ob dieser Schock auf die zugrundeliegende Inflation und die Inflationserwartungen übertragen wird oder nicht. Wenn nicht, sollte die Geldpolitik nicht reagieren. Wir wären ohnehin in der Lage, das Tempo unserer künftigen Zinssenkungen anzupassen. Sofern es keine Überraschung gibt, ist die erste Zinssenkung im Juni beschlossene Sache, aber danach haben wir mehrere Freiheitsgrade.
Wir haben über mögliche Aufwärtsrisiken gesprochen. Welche Abwärtsrisiken sehen Sie für die Inflation?
Eines der offensichtlichen Risiken ist ein gedämpftes Wirtschaftswachstum. In mancher Hinsicht sind geldpolitische Entscheidungen in der Eurozone derzeit einfacher als in den USA, da der Konjunkturzyklus schwächer ist. Neben der Gefahr einer vorzeitigen Lockerung und Verfehlung unseres Inflationsziels „von oben“ ist die Gefahr, zu spät zu senken und das Ziel „von unten“ zu verfehlen, mittlerweile mindestens genauso groß: Die Europäer würden dann einen zu hohen Preis bei der Wirtschaftstätigkeit und der Beschäftigung zahlen.
Aller Voraussicht nach werden Sie und Ihre Ratskollegen Anfang Juni eine Zinssenkung beschließen. Die Geldpolitik der EZB und die der Fed könnten sich dann für einige Zeit entkoppeln. Welche Folgen hätte das für die Eurozone?
Was die Fed derzeit mitteilt, ist, dass die Wahrscheinlichkeit einer Zinserhöhung weiterhin gering ist. Sollte es also zu einer Entkopplung kommen, würde diese nicht ewig dauern. Es könnte zwei Konsequenzen haben. Erstens: Obwohl diese Verzögerung von den Märkten bereits eingepreist ist, könnte es zu einem gewissen Druck auf den Wechselkurs kommen. Einer der großen Vorteile des Euroraums besteht jedoch darin, dass er über eine große Volkswirtschaft verfügt. Der Binnenmarkt hat die gleiche Größe wie der US-Markt und wird daher nicht so stark vom Wechselkurs beeinflusst. Die Weitergabe an die Verbraucherpreise beträgt weniger als 10%. Wenn der Dollar gegenüber dem Euro um etwa 1% an Wert gewinnt, erhöht dies den Preisindex des Euroraums um weniger als 0,1%. Laut einer Studie der Banque de France könnte die Weitergabe sogar noch geringer ausfallen, etwa 0,05 Prozentpunkte.
Die US-Fiskalpolitik ist der Elefant im Raum.
François Villeroy de Galhau
Was ist die zweite Auswirkung?
Die langfristigen Zinssätze könnten in den USA höher bleiben. Hier wären die Spillover-Effekte auf die Finanzmärkte größer, da sich die Verschärfung der Finanzierungsbedingungen auf den Euroraum ausweiten würde. Der Wechselkurskanal könnte also inflationär und der langfristige Zinskanal disinflationär für Europa sein. Daraus ziehe ich zwei Schlussfolgerungen. Die US-Geldpolitik sollte unsere eigene Geldpolitik nicht so stark beeinflussen. Und die US-Fiskalpolitik ist der Elefant im Raum: Sie liegt nicht in den Händen der Fed und könnte die Höhe der langfristigen Zinssätze erheblich beeinflussen. Ein großes US-Haushaltsdefizit verschärft die Finanzierungsbedingungen und heizt die Inflation an.
Wie beurteilen Sie die Fiskalpolitik in der Eurozone? Ist sie zu expansiv?
Wir haben eine einheitliche Geldpolitik, aber keine gemeinsame Fiskalpolitik. Daher äußert jede nationale Zentralbank hierzu ihre Stimme. Ich begrüße den überarbeiteten Rahmen für die Haushaltsregeln, auch wenn er komplex ist. Ich werde die deutsche Finanzpolitik nicht kommentieren: Die Bundesbank macht das. Für Frankreich hingegen sollten wir die Straffung in einem angemessenen Tempo durchführen. Wir haben eine Staatsverschuldung, die mittlerweile über dem Durchschnitt des Euroraums liegt. Während Corona war das „was auch immer es kostet“ gerechtfertigt, aber jetzt nicht mehr. Die bevorstehende geldpolitische Lockerung ist kein schlechter Zeitpunkt für die Haushaltskonsolidierung in Frankreich.
Im EZB-Rat gibt es unterschiedliche Vorstellungen dazu, wie das Tempo bei den Zinssenkungen aussehen sollte. Welchen Ansatz halten Sie für den richtigen?
Ich plädiere für maximale Optionalität und „agilen Gradualismus“ nach unserer ersten Kürzung im Juni. Ich lese manchmal, dass wir die Zinsen nur einmal im Quartal senken sollten, wenn neue EZB-Prognosen vorliegen, und daher den Juli ausschließen sollten. Warum, wenn wir von Meeting zu Meeting und datengetrieben arbeiten? Ich sage nicht, dass wir uns auf den Juli festlegen sollten, aber wir sollten hinsichtlich des Zeitpunkts und des Tempos unsere Freiheit behalten.
Wie sieht es mit der Summe an Zinssenkungen aus?
Manchmal wundert es mich auch, wenn ich höre, dass die ersten 50 Basispunkte einfach wären und dass es darüber hinaus schwieriger werden würde. Nun ja, nach den ersten beiden Zinssenkungen wird unsere Geldpolitik restriktiv bleiben. Wir kämpfen weiterhin aktiv gegen die Inflation, bis wir den neutralen Zinssatz erreichen.
Auf welchem Niveau befindet sich der neutrale Zins Ihrer Einschätzung nach in etwa in der Eurozone?
Nach den meisten Schätzungen liegt er nominal zwischen 2 und 2,5%. Das bedeutet nicht, dass wir zu diesem Zinssatz übergehen sollten, sondern dass wir bei einem Einlagensatz von 4% erheblichen Spielraum für Zinssenkungen haben. Aus heutiger Sicht bin ich übrigens der Meinung, dass die aktuellen Markterwartungen an unseren Endzinssatz in diesem Zyklus nicht unangemessen sind.
Brauchen die Märkte Forward Guidance?
Wir sollten nicht zur Forward Guidance zurückkehren. Dies war nützlich, als die Welt viel vorhersehbarer war und wir uns bei den Zinssätzen an der Untergrenze befanden. Aber Optionalität sollte nicht übermäßige Volatilität bedeuten: Wir könnten einige Hinweise auf unsere Reaktionsfunktion auf Daten geben. Persönlich würde ich drei Kompasse festlegen. Erstens sind europäische Inflationsdaten für unsere Entscheidungen viel wichtiger als die US-Daten. Zweitens sind die Inflationsaussichten und unsere Prognosen nun wieder mindestens genauso wichtig wie die tatsächlichen Monatsdaten. Vor zwei Jahren waren unsere Modelle nicht sehr hilfreich, weil wir mit Corona und dem russischen Krieg gegen die Ukraine die beispiellose Abfolge zweier unvorhersehbarer Schocks erlebt haben. Jetzt haben wir wieder mehr Vertrauen in unsere Modelle und Prognosetools gewonnen, während wir im weiteren Verlauf dieses Jahres eine gewisse erhöhte Volatilität bei den monatlichen Inflationsdaten feststellen könnten.
Aus heutiger Sicht bin ich übrigens der Meinung, dass die aktuellen Markterwartungen an unseren Endzinssatz in diesem Zyklus nicht unangemessen sind.
François Villeroy de Galhau
Und die dritte Orientierungshilfe?
Für mich ist die Inflation im Dienstleistungssektor wichtiger als Löhne oder Margen. Wie Sie wissen, konzentrieren wir uns auf die zugrundeliegende Inflation – ohne Energie und Nahrungsmittel –, deren wichtigste Komponente die Dienstleistungsinflation ist. Die Inflation in diesem Bereich könnte etwas hartnäckiger sein, obwohl sie bereits von einem Höchststand von rund 5,5% im Sommer 2023 auf 3,7% im April 2024 gesunken ist. Ich glaube nicht, dass der letzte Kilometer der Disinflation von Natur aus schwieriger ist, aber er könnte länger dauern.
Das Wirtschaftswachstum im Euroraum wird stärker, liegt aber immer noch auf niedrigem Niveau.
Das Wachstum dürfte sich im nächsten Jahr beschleunigen. Die Disinflation wird die wirtschaftliche Erholung stärken, indem sie Kaufkraft und Konsum erhöht: Die Bekämpfung der Inflation und die Förderung des Wirtschaftswachstums sind kein Widerspruch, sondern gehen Hand in Hand. Allerdings bleibt das Potenzialwachstum im Euroraum mit etwas mehr als 1%, insbesondere im Vergleich zu den USA, zu schwach. Da die Inflation nachlässt, sollten wir uns ernsthaft mit Strukturreformen befassen: Innovation und digitaler Wandel, Klimawandel, Effizienzsteigerung im öffentlichen Sektor.
Was halten Sie von Forderungen, Investitionen mit Hilfe niedrigerer Zinsen anzukurbeln?
Wir haben ein Mandat, das uns demokratisch gegeben ist: Preisstabilität – übrigens ein Erbe der Deutschen Bundesbank. Aber ich sehe auch überhaupt keinen Widerspruch. Warum sind die kurzfristigen Zinsen, über die die EZB entscheidet, derzeit höher? Weil wir mit einer höheren Inflation zu kämpfen hatten. Betrachtet man die Inflationserwartungen und die langfristigen Zinssätze, so blieben diese dank der Glaubwürdigkeit der Zentralbank recht gut am Inflationsziel von 2% verankert. Diese Glaubwürdigkeit ist also auf lange Sicht die beste Möglichkeit, Investitionen zu moderaten langfristigen Zinssätzen zu finanzieren.
Wie kann das strukturelle Wachstum der Eurozone angekurbelt werden?
Wenn Europa sich vereint und seine Stärken bündelt, insbesondere Frankreich und Deutschland, hat es die Mittel und Wege, um das Wachstum zu beschleunigen. Ich hoffe, dass zwei Prioritäten ganz oben auf der Tagesordnung der neuen Europäischen Kommission und des neuen Europäischen Parlaments stehen werden. Erstens die Vertiefung des Binnenmarkts, wie Enrico Letta in seinem Bericht vorschlägt. Nach Angaben des IWF könnte das reale BIP um 7% steigen, wenn die internen Hindernisse um 10% verringert würden. Den negativen Beweis können wir leider im Vereinigten Königreich mit dem Brexit sehen. Zweitens: die Kapitalmarktunion zur Stärkung unserer Finanzkraft.
Im Rahmen unseres Mandats sind wir in der Tat unter Christine Lagarde Vorreiter bei der Einbeziehung des Klimawandels in unsere Geldpolitik.
François Villeroy de Galhau
Können Sie noch etwas mehr zur Kapitalmarktunion sagen?
Wir haben einen Investitionsbedarf von mehr als 500 Mrd. Euro pro Jahr, aber eine verborgene Ressource: Betrachtet man den europäischen Überschuss an Ersparnissen gegenüber inländischen Investitionen, beläuft er sich auf etwa 2% unseres BIP oder mehr als 300 Mrd. Euro pro Jahr. Heute finanzieren diese privaten Ersparnisse Investitionen in den USA oder in Schwellenländern. Die Kapitalmarktunion wird bisher als ein sehr technisches Projekt mit zu vielen Elementen angesehen. Stattdessen sollten wir sie in „Spar- und Anlageunion“ umbenennen und uns auf vier bis fünf große Themen konzentrieren, darunter grüne Verbriefungen und europäisches Risikokapital.
Emmanuel Macron hat in einer vielbeachteten Rede vorgeschlagen, dass die EZB neben der Inflation auch das Wirtschaftswachstum und eventuell sogar auch Klimapolitik in ihrem Mandat berücksichtigen soll. Was halten Sie von diesem Vorschlag?
Ich schätze die Unabhängigkeit der Zentralbank, eine weitere deutsche Tugend. Deshalb kommentiere ich niemals politische Äußerungen, schon gar nicht die des Präsidenten selbst. Unsere Pflicht bei der EZB besteht darin, unser Mandat, das uns die Demokratie gibt, umzusetzen. Und im Rahmen unseres Mandats sind wir in der Tat unter Christine Lagarde Vorreiter bei der Einbeziehung des Klimawandels in unsere Geldpolitik.
Sie sagten, Sie hätten wieder mehr Vertrauen in die Prognosen der EZB. Aber ist die Unsicherheit im langfristigen Vergleich nicht immer noch recht hoch?
Wir müssen sicherlich mit einer unsichereren und fragmentierteren Welt leben, in der es häufiger zu angebotsseitigen Schocks kommt. Ich halte ein klares Bekenntnis zur Preisstabilität für entscheidender denn je, denn wir geben unseren Mitbürgern und Wirtschaftsakteuren so zumindest einen wichtigen Anker.
Könnten geoökonomische Spannungen zu einer höheren strukturellen Inflation in der Eurozone führen?
Ich würde eher sagen, dass es zu einer erhöhten Volatilität der Inflation kommen könnte. Nicht alle Schocks wirken zwangsläufig inflationär. Der Klimawandel hat beispielsweise erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen, deren Ausmaß und Richtung jedoch noch unklar sind. Aus diesem Grund haben wir in Paris das NGFS (Network for Greening the Financial System) gegründet. Wir veröffentlichen Szenarien. Der notwendige grüne Übergang verläuft wahrscheinlich im Durchschnitt, aber ich sage es sehr vorsichtig, ein wenig inflationstreibend und ein wenig restriktiv für die wirtschaftliche Aktivität. Aber je länger wir warten würden, desto höher würden die Kosten.
Also sollte der Klimawandel in den Prognosen der EZB eine größere Rolle spielen?
Ja, da er eine stärkere Rolle bei der wirtschaftlichen Entwicklung spielt. Es ist jedoch nicht einfach, Vorhersagen zu treffen, und wir müssen bei dem, was ich die Makroökonomie des Klimas nenne, Fortschritte machen. Das ist es, was wir am NGFS versuchen.
Der geldpolitische Handlungsrahmen der EZB wird sich ändern. Ab September sinkt der Abstand zwischen Hauptrefinanzierungssatz und Einlagensatz auf 15 Basispunkte. Hat das Auswirkungen auf die Geldpolitik?
Kurz- bis mittelfristig nicht. Unser Ziel war es, dem Finanzsystem und den Märkten im Voraus Klarheit darüber zu verschaffen, was nach der Situation der überschüssigen Liquidität, in der wir uns bis mindestens 2026 befinden, passieren würde. Das Ziel besteht natürlich nicht darin, danach in eine Situation knapper Liquidität zu geraten, denn wir könnten dann Probleme für die Finanzstabilität und auch für die Wirtschaft bekommen. Unser Ziel wird es vielmehr sein, den einzelnen Finanzinstituten ausreichend Liquidität zur Verfügung zu stellen. Die Marktreaktion auf unsere Ankündigung im März war gedämpft, was wahrscheinlich das beste Zeichen dafür ist, dass unsere Überarbeitung des Handlungsrahmens gut konzipiert war.
Das Interview führten Martin Pirkl und Gesche Wüpper.
Das Interview führten Martin Pirkl und Gesche Wüpper.
Im Interview: François Villeroy de Galhau
Das Interview im englischen Original finden Sie hier. Und ein Portrait über François Villeroy de Galhau hier.