Im InterviewJörg Krämer

„Die Zinssenkung der EZB war verfrüht“

Die Zinssenkung der EZB dürfte sich als Fehler erweisen, meint Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer. Aktuelle Wirtschaftsdaten begründeten keine geldpolitische Lockerung im Juni, wie er im Interview der Börsen-Zeitung erklärt. Zudem kritisiert er die Kommunikation der EZB.

„Die Zinssenkung der EZB war verfrüht“

„Die Zinssenkung der EZB war verfrüht“

Herr Krämer, Sie sagen, die gestrige Zinssenkung der EZB dürfte sich in der Rückschau als Fehler erweisen. Wie kommen Sie zu dem Schluss?

Die Zinssenkung der EZB war verfrüht. Denn die Inflationsdaten sind zuletzt höher ausgefallen als von der EZB erwartet. Außerdem sind die Tariflöhne im ersten Quartal wieder stärker gestiegen. Nicht umsonst haben offenbar vier Ratsmitglieder nur deshalb der Zinssenkung zugestimmt, weil sich die Notenbank vorab öffentlich auf diesen Zinsschritt festgelegt hatte.

Die Tariflöhne sind im ersten Quartal überraschend stark gestiegen. Die EZB prognostiziert jedoch, dass sich das Lohnwachstum 2024 und vor allem 2025 abschwächen wird. Diese Vorhersage überzeugt Sie nicht?

Es stimmt, dass die Tarifabschlüsse im ersten Quartal nicht mehr ganz so hoch waren wie in den vorherigen Quartalen. Entscheidend für die Inflation ist aber, wie stark das Lohnniveau insgesamt zulegt; man muss also neue und bestehende Tarifabschlüsse zusammen betrachten. Hier sehen wir, dass sich der Anstieg der Tariflöhne nicht abschwächt, sondern er sich lediglich auf einem hohen Niveau stabilisiert, das jedoch nicht mit einer Rückkehr der Inflation auf 2% vereinbar ist.

Ein anderes Argument der EZB ist, dass der Spielraum für weitere Preiserhöhungen begrenzt ist, das hohe Lohnwachstum also zum Teil dadurch aufgefangen wird, dass die Margen der Unternehmen sinken und nicht die Preise steigen.

Es stimmt, dass sich die Preissetzungsmacht der Unternehmen in den vergangenen Quartalen verringert hat. Aber die Erholung der konjunkturellen Frühindikatoren wie der Einkaufsmanagerindizes deutet darauf hin, dass die Preissetzungsmacht der Unternehmen gegen Jahresende wieder zunehmen könnte.

Die Inflation dürfte sich zum Jahresende eher bei 3 als bei 2% einpendeln.

Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank

Was ist Ihre Prognose für die Entwicklung der Inflation?

Die Inflation dürfte sich zum Jahresende eher bei 3 als bei 2% einpendeln. Der Rückgang der Inflation bei Waren ohne Energie und Nahrungsmittel ist bereits weitgehend durch. Gleichzeitig werden die Preise für Dienstleistungen wegen der stark steigenden Löhne weiter kräftig zulegen. Seit Jahresanfang steigen die Verbraucherpreise ohne Energie und Nahrungsmittel ohnehin wieder stärker – und zwar mit einer aufs Jahr hochgerechneten Rate von 3,5%. Das ist weit mehr, als mit dem Inflationsziel der EZB vereinbar ist.

Die EZB hat ihre Inflationsprognose für 2024 und 2025 angehoben. Gleichzeitig senkt sie die Zinsen. Das wirkt mindestens auf den ersten Blick widersprüchlich. Ist es Christine Lagarde aus Ihrer Sicht gelungen, diesen Widerspruch aufzulösen?

Man hat gemerkt, wie schwer es ihr fiel, dies nicht als Widerspruch erscheinen zu lassen. Nicht umsonst hat sie ausufernd auf die Fragen der Journalisten geantwortet. Wer dagegen nachvollziehbare Sachverhalte erklären will, braucht weniger Worte.

Sind Sie generell dagegen, dass die EZB andeutet, wohin die Reise geht?

Nicht grundsätzlich. Die EZB kann schon zwei, drei Wochen vor einem Zinsentscheid andeuten, in welche Richtung sie tendiert. Sie hat aber bereits im März eine Zinssenkung im Juni ins Spiel gebracht. Im April hat sie den Zinsschritt dann faktisch angekündigt. Das ist nicht vereinbar mit einem Ansatz der Datenabhängigkeit, den Lagarde immer wieder gebetsmühlenhaft betont.

Für wann rechnen Sie derzeit mit einer zweiten Zinssenkung?

Eine Zinssenkung im Juli ist vom Tisch, das ist klar. Aber im September dürfte sie ihre Zinsen senken, sofern es Inflation und Löhne halbwegs hergeben. Denn die Anhänger einer grundsätzlich lockeren Geldpolitik, die sogenannten Tauben, sind im EZB-Rat weit in der Überzahl.

Eine Zinssenkung im Juli ist völlig vom Tisch, das ist klar.

Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank

Wie lautet Ihre längerfristige Prognose?

Ich erwarte, dass der Einlagensatz bis zum ersten Quartal nächsten Jahres auf 3% sinkt. Danach sehe ich keine weiteren Zinssenkungen, da die EZB dann realisieren dürfte, dass die Inflation doch hartnäckiger ist als gedacht. Sie kann dann den Einlagensatz nicht einfach auf die 2% senken, die sie als neutrales Niveau ansieht. Man kann also nicht von einem echten Zinssenkungszyklus sprechen.

Wenn sich die Inflation als hartnäckiger als von der EZB angenommen erweist, halten Sie dann gar eine Zinserhöhung der EZB im Jahr 2025 für denkbar?

Ich würde das nicht vollkommen ausschließen. Unser Basisszenario ist das aber nicht.

Mehrere EZB-Ratsmitglieder haben zuletzt die Bedeutung der Projektionen der Notenbank für die Steuerung der Geldpolitik betont. Halten Sie das für einen richtigen Ansatz?

Ich halte diese Aussagen für gewagt. Schließlich lagen die langfristigen Inflationsprojektionen der EZB in den letzten Jahren massiv daneben. Am Ende ihres Prognosehorizonts, der für die Geldpolitik entscheidend ist, hat sie stets eine Inflation von rund 2% prognostiziert, obwohl sie zwischenzeitlich zweistellig war. Diese Langfristprognosen haben die EZB in falscher Sicherheit gewiegt, weshalb sie den Anstieg der Inflation ab 2021 als vorübergehend abgetan und ihre Zinsen erst im Juli 2022 viel zu spät erhöht hat. Aus diesem Fehler sollte die Notenbank lernen. Die Inflationsprojektionen sollten deshalb bei anstehenden Zinsentscheidungen eine geringere Rolle spielen als früher. Stattdessen sollte die EZB die aktuellen Inflationsdaten stärker gewichten.

Welche Daten erachten Sie für die wichtigsten?

Natürlich die Inflation, die Kernrate als Indikator für den unterliegenden Preisdruck, die Löhne und das Wirtschaftswachstum. Darüber hinaus sind auch der Wechselkurs und die Entwicklung der Rohstoffpreise wichtig.

Stichwort Wechselkurs: Die Fed könnte länger als derzeit erwartet die Zinsen nicht senken. Welche Auswirkungen auf den Euro erwarten Sie?

Die Fed nimmt zurzeit mehr Rücksicht auf die Inflation als die EZB. Das dürfte den Euro gegenüber dem Dollar tendenziell schwächen. Ich erwarte aber nicht, dass der Euro unter die Parität fallen wird. Denn der Euro ist gemessen an der Kaufkraftparität bereits recht schwach.


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Im Interview: Jörg Krämer

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Das Interview führte Martin Pirkl.