„Die zu hohe Inflation ist unsere Top-Priorität“
Mark Schrörs.
Herr Holzmann, in Europa herrscht Krieg. Keiner weiß genau, wie es weitergeht, die Unsicherheit ist extrem groß. Wie kann man unter solchen Umständen geldpolitische Entscheidungen treffen, die teilweise weit in die Zukunft wirken?
Wir beobachten die Entwicklungen sehr genau und bemühen uns dann, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Wir können nicht in Schockstarre verfallen. Das Wichtigste ist jetzt, dass es möglichst schnell eine Friedensoption gibt, um das fürchterliche menschliche Leid zu beenden. Und das wäre dann auch aus ökonomischer Sicht gut – für das Wachstum und für die Inflation. Das heißt im Umkehrschluss aber auch: Je länger der Krieg andauert, desto größer wird der wirtschaftliche Schaden sein.
Derzeit spitzt sich der Krieg zu und die Sanktionsspirale dreht sich immer weiter. Ist damit das Basisszenario der EZB-Volkswirte von Mitte März, das nur relativ geringfügige Wachstumseinbußen durch den Krieg und immer noch 3,7% Wachstum in diesem Jahr vorausgesagt hat, bereits jetzt obsolet? Geht es jetzt schon eher in Richtung der schlechteren Szenarien von Mitte März?
Die März-Projektionen waren dadurch geprägt, dass nur sehr wenig Zeit war, die Ereignisse in und um die Ukraine einzuarbeiten. Das Basisszenario war schon damals etwas veraltet. Die Lage entspricht inzwischen mehr dem sogenannten adversen Szenario, bei dem das Wachstum im Jahr 2022 1,2 Prozentpunkte geringer ausfällt und voraussichtlich rund 2,5% beträgt.
Aber ist selbst das nicht noch sehr optimistisch? Viele Ökonomen warnen vor wirtschaftlicher Stagnation – oder in Kombination mit der hohen Inflation sogar Stagflation. Andere befürchten sogar eine neuerliche Rezession.
Nach aktuellem Stand erwarten wir weder eine Rezession noch eine wirtschaftliche Stagnation. Die Wachstumseinbußen sind spürbar, aber derzeit nicht bedrohlich. Das hat auch damit zu tun, dass die Wachstumsaussichten vor Ausbruch des Krieges sehr gut waren. Die Wirtschaft war dabei, die Pandemie hinter sich zu lassen. Das Szenario, von dem wir aktuell ausgehen, ist auch weit entfernt von einer Stagflation.
In dem „adversen“ Szenario der EZB-Volkswirte wird die Inflation 2022 auf 5,9% geschätzt. Sorgen Sie sich aktuell mehr wegen der hohen Inflation oder wegen der Konjunkturrisiken infolge des Kriegs?
Für uns ist die zu hohe Inflation ganz sicher die Top-Priorität auf unserer Agenda. Die Menschen spüren die Inflation täglich bei ihren Einkäufen und bei allem, was sie tun. Die Verringerung des Wirtschaftswachstums ist für sie nicht so direkt spürbar, auch weil der Arbeitsmarkt in Europa immer noch sehr stark ist.
Hätten Sie sich vorstellen können, dass wir im Euroraum mal wieder Inflationsraten von 6%, 7% oder mehr sehen werden? Viele hatten die Inflation bereits als „tot“ erklärt und als überwunden angesehen.
Da spielt sicher auch eine Rolle, aus welcher ökonomischen Schule man kommt. Ich komme aus einer Schule, die davon ausgeht, dass Geld letzten Endes noch immer eine Rolle spielt. Eine Erhöhung der Liquidität ist deshalb immer mit der Gefahr von höherer Inflation verbunden. Oft braucht es dann aber einen Schock, um bestimmte Entwicklungen auszulösen. Wir hatten nun erst den Schock der Pandemie und haben jetzt den Schock bei den Energie- und Nahrungsmittelpreisen. Waren die jetzigen Inflationsraten so absehbar? Nein. Kommen sie völlig überraschend? Auch Nein!
Aber was lässt sich aus dem Unterschätzen der Inflation für die Zukunft lernen? Die Inflation war auch vor dem Krieg schon sehr hoch – sie lässt sich nicht allein darauf schieben.
Das ist vollkommen richtig. Die Inflation begann schon im Spätsommer 2021. Schon da waren Tendenzen absehbar, dass die Inflation vor allem von außen stark angetrieben wird. Das gilt etwa für die Energiepreise, speziell die Gaspreise. Die Umstellung der Chinesen in der Stromproduktion von Kohle auf Erdgas war da ein wesentlicher Preistreiber. Absehbar war auch, dass wegen schlechter Ernten weltweit die Nahrungsmittelpreise steigen würden. Ein dritter wichtiger Punkt ist die Lieferkettenproblematik, und da müssen wir zugeben, dass wir die Entwicklung noch nicht ganz verstehen. Nach zwei Jahren wäre zu erwarten gewesen, dass sie sich auflösen oder sich die Wirtschaft darauf eingestellt hat. Das ist aber nicht passiert. Das haben wir unterschätzt und unterschätzen es vielleicht auch jetzt noch. Das gilt im Übrigen auch mit Blick auf den Ukraine-Krieg.
Das heißt?
Wegen einiger fehlender Teile aus Russland und der Ukraine stehen teilweise ganze Produktionsstätten still. Wenn das bei einzelnen Unternehmen passiert, ist das für die Gesamtwirtschaft verschmerzbar. Wenn es flächendeckend passiert, ist es ein Problem. Da fehlen uns noch ausreichend Daten und Analysen.
Aber bedeutet das Unterschätzen der Inflation in der Vergangenheit nicht auch, dass Zweifel an der Zuversicht angebracht sind, dass die Inflation nun 2023 und 2024 wieder in Richtung 2% oder darunter fällt?
Es gibt gute Argumente für die Annahme einer mittelfristig wieder sinkenden Inflation. Die Energiepreise dürften von dem jetzigen Höhepunkt wieder zurückgehen, zumal bei hohen Preisen Investitionen in die Energieerzeugung attraktiver werden – was das Angebot erhöht und die Preise senken sollte. Zudem belastet die hohe Inflation die Realeinkommen, so dass die gesamtwirtschaftliche Nachfrage nachlässt – was die Preise ebenfalls dämpft. Hinzu kommt, dass sich die Inflationserwartungen immer noch im Bereich unseres Ziels von 2% bewegen. Es gibt bislang keine Entankerung der Inflationserwartungen. Das ist eine gute Nachricht. Aber wir dürfen uns darauf nicht verlassen. Wir müssen absolut wachsam sein.
Eine zentrale Rolle spielt jetzt die Lohnentwicklung. Teilen Sie die Zuversicht vieler Ihrer Ratskollegen, dass bislang keine Lohn-Preis-Spirale droht?
Die hohe Inflation wird sicher zu höheren Löhnen führen. Die Gewerkschaften werden sich jetzt nicht unbedingt mit 2% zufriedengeben. Die große Frage ist aber, wie stark dieser Trend ausfällt. Bislang sehen wir europaweit keine überzogene Lohnentwicklung. Entscheidend ist aber auch, wie sich die Produktivität entwickelt. Bei höherer Produktivität können auch höhere Lohnabschlüsse angemessen erscheinen. Wir müssen die Lohnentwicklung sehr genau im Blick behalten und notfalls gegensteuern. Im Herbst stehen einige große Lohnrunden an. Das wird dann eine Bewährungsprobe.
Was bedeutet all das denn für den EZB-Kurs. Bei der März-Sitzung hieß es, dass die Anleihekäufe im dritten Quartal enden könnten, wenn sich das Basisszenario erfüllt – was dann die Tür für Zinserhöhungen noch 2022 eröffnen würde. Jetzt sagen Sie, dass das Basisszenario wohl schon überholt ist. Ändert das etwas am avisierten Kurs?
Meiner Einschätzung nach gibt es bislang keinen Anlass für eine Kurskorrektur. Bislang sehe ich keinen Grund, die Anleihekäufe nicht im Sommer auslaufen zu lassen. Und mein Eindruck ist, dass diese Einschätzung von einem nicht unbeträchtlichen Teil meiner Ratskollegen geteilt wird. Die Entscheidung wird in den nächsten Monaten fallen, spätestens im Juni. Dann gibt es wieder neue Projektionen.
Und das heißt, dass dann auch 2022 noch Zinserhöhungen realistisch sind? Ihr Ratskollege Klaas Knot hat unlängst sogar von noch zwei möglichen Zinserhöhungen in diesem Jahr gesprochen.
Ich bin Klaas Knot sehr dankbar, dass er meinen Vorschlag aufgegriffen hat. Eine Anhebung des Einlagenzinses auf 0% bis Jahresende wäre für die Geldpolitik wichtig, weil das die Optionalität erhöht. Man hat mehr Optionen, wenn man es tut, als wenn man es nicht tut. Wenn sich die Dinge so entwickeln, wie wir jetzt annehmen, wird die Inflation in diesem Jahr höher sein, als wir ursprünglich erwartet hatten. Das bedeutet zugleich, dass der reale Zins noch niedriger liegt als gedacht, die Geldpolitik also akkommodierender ist als gedacht. Wenn wir nun gegen Jahresende feststellen sollten, dass die Inflation auch noch länger höher bleibt, müssten wir die Geldpolitik stärker straffen und die Zinsen deutlicher anheben. Wenn wir dann nicht schon bei 0% beim Einlagenzins wären, wären wir zu spät dran. Wenn die Inflation nicht höher ausfällt als ohnehin gedacht, könnten wir zunächst einfach bei 0% bleiben.
Das heißt, die von der EZB viel zitierte „Normalisierung“ der Geldpolitik bedeutet ein Ende der Anleihekäufe und ein Ende des Nullzinses. Alles, was darüber hinausgeht, also insbesondere deutliche Zinserhöhungen, wäre eine geldpolitische „Straffung“ – oder wo verlaufen da genau die Grenzen?
Das ist eine sehr gute Frage, aber auch ein sehr komplexes Thema. Der berühmte wie unbekannte reale Gleichgewichtszins dürfte aktuell zwischen −1% und −0,5% liegen. Da der reale Gleichgewichtszins nicht messbar ist, handelt es sich dabei um Schätzungen. Bei einem Inflationsziel von 2% liegt der nominale Gleichgewichtszins also bei rund 1% bis 1,5%. Alles, was darunter liegt, bedeutet, dass wir auf dem geldpolitischen Gaspedal stehen. Alles darüber heißt, dass wir auf die Bremse treten. Wenn wir den Einlagenzins also auf 0% anheben, sind wir von einer Normalisierung der Geldpolitik noch weit entfernt – und von einer Straffung kann schon gar keine Rede sein. Wir gehen langsam vom Gas, stehen aber noch lange nicht auf der Bremse. Und das erst recht, wenn man nicht die Zielinflationsrate von 2% ansetzt, sondern die tatsächliche Inflation.
Einige Ökonomen und auch Ex-EZB-Notenbanker warnen trotzdem, dass die EZB nun mit einem Ausstieg aus den Anleihekäufen und Zinserhöhungen Fehler aus den Jahren 2008 und 2011 wiederhole, als sie zum falschen Zeitpunkt die Leitzinsen erhöht habe. Was halten Sie davon?
Ich halte den Vergleich mit 2008 oder auch 2011 nicht für gerechtfertigt. Damals gab es große Probleme im Bankensektor und an den Finanzmärkten, es gab Probleme mit der Liquidität. Das ist heute ganz anders. Die Banken sind alle gut kapitalisiert und haben keine Probleme, den Investitionswünschen der Unternehmen nachzukommen. Und auch die Finanzmärkte sind trotz der Krise wegen des Ukraine-Kriegs in guter Verfassung. Es ist reichlich Liquidität vorhanden. Deswegen gibt es auch keinen Grund, über den Sommer hinaus am Anleihekaufprogramm APP festzuhalten.
Und damit ist auch Kritik, die EZB überziehe angesichts der aktuell hohen Inflation, überzogen?
Ja, absolut. Und das gilt umso mehr, wenn man berücksichtigt, dass wir auch nach einem Ende der Nettoanleihekäufe auslaufende Wertpapiere voraussichtlich noch einige Zeit in Höhe eines zweistelligen Milliardenbetrags pro Monat reinvestieren werden. Das heißt, wir stellen dem Markt immer noch sehr viel Liquidität zur Verfügung.
Kann oder sollte die EZB beim Exit Lehren aus den USA ziehen, wo die Fed der hohen Inflation sehr lange zugeschaut hat und jetzt zu einem sehr rapiden Kurswechsel und einer sehr aggressiven Straffung gezwungen ist? Ist es besser, frühzeitiger gegenzusteuern?
Wir sind nicht unter Druck, mit der Fed geldpolitisch gleichzuziehen. Der Konjunktur- und Finanzzyklus im Euroraum hinkt jenem in den USA etwa ein halbes Jahr hinterher. Wir haben also mehr Zeit als die Fed. Richtig ist aber auch: Wenn die Fed jetzt ihren Zins deutlich anhebt, wird das nicht ohne Einfluss auf den Euro-Wechselkurs bleiben. Wir haben kein Wechselkursziel. Aber wenn der Euro deutlich abwerten sollte, importieren wir noch mehr Inflation. Bislang sind die Bewegungen aber noch vergleichsweise gering, auch im historischen Kontext.
Viele Beobachter führen die zögerliche Reaktion der US-Notenbank auch auf die neue Strategie der Fed zurück, die eine größere Toleranz gegenüber Inflationsraten oberhalb des Zielwerts von 2% impliziert. Auch die EZB hat seit Sommer 2021 eine neue Strategie, die nach Ansicht vieler Experten in eine ähnliche Richtung zielt. Erweist sich das jetzt als Fehler?
Die Strategien sind ähnlich, aber nicht identisch. Der große Unterschied ist, dass die Fed darauf abzielt, Jahre mit einem Unterschreiten des Ziels in der Zukunft auszugleichen. Das tun wir explizit nicht. Unser Ziel ist 2%, egal, was in der Vergangenheit war. Zugleich gibt es keinen Grund, bei 3% oder 4% Inflation nervös zu werden, solange es mittelfristig in Richtung 2% geht und die Inflationserwartungen gut bei 2% verankert bleiben. Das ist dann keine Katastrophe und es gibt keinen Grund, geldpolitisch zu überziehen.
Wenn die EZB jetzt Richtung Normalisierung strebt, muss dann die Fiskalpolitik auf EU-Ebene wie auf nationaler Ebene mehr tun, um notfalls die Wirtschaft zu unterstützen?
In der aktuellen Situation kann es Sinn machen, über neue EU-Töpfe nachzudenken. Wichtig ist aber, dass das Geld dann auch sinnvoll ausgegeben wird. Entscheidend ist zudem, die zusätzliche Verschuldung nicht zu verstecken. Auch solche Töpfe müssen in die intertemporale Budgetberechnung eingebracht werden. Eine Sonderbehandlung ist nicht angebracht und wäre gefährlich für das budgetpolitische Gleichgewicht. Perspektivisch müssen wir die Staatsverschuldung zurückfahren. Die Defizite sind nicht mehr so hoch wie in der Pandemie, aber auch noch nicht dort, wo sie sein sollten, um wieder zu einer Reduktion der Schulden zu kommen. Das muss aber das Ziel sein.
Ein Vorschlag läuft darauf hinaus, den EU-Wiederaufbaufonds mit aktuell 750 Mrd. Euro aufzustocken, um Ausgaben zu finanzieren, die die Energieabhängigkeit von Russland senken und die grüne Transformation unterstützen?
So etwas kann unter bestimmten Umständen Sinn machen – unter den richtigen Bedingungen.
Es gibt durchaus die Meinung, dass wir gerade in einem existenziellen Kampf steckten um Europa, gegen die russische Aggression und dass dieser Kampf nicht am Geld scheitern dürfe. Soll heißen: Wir wollten uns gerade nicht über neue Schulden sorgen und auch die EZB sollte das 2-Prozent-Inflationsziel hintanstellen und garantieren, dass kein EU-Staat wegen des Kriegs pleitegeht. Was sagen Sie dazu?
Ich würde nicht ausschließen, dass wir noch in eine solche Situation kommen. Insofern macht es Sinn, in Szenarien zu denken. Aber im Moment sehe ich nicht, dass diese Notwendigkeit besteht.
Das Interview führte