„Die Zuversicht bröckelt“
Im Interview: Holger Schmieding
„Die Zuversicht bröckelt“
Der Vorsitzende des BdB-Ausschusses für Wirtschafts- und Währungspolitik zur Lage der deutschen Wirtschaft, Forderungen an die Politik und zur Zinswende
Das Interview führte Alexandra Baude.Der deutschen Wirtschaft fehlen vor allem die Impulse aus dem Ausland. Aber auch die Ampel-Parteien könnten für Schwung sorgen. Holger Schmieding, Chefvolkswirt der Berenberg Bank, erläutert die Gemeinschaftsprognose der privaten Banken.
Herr Schmieding, die BdB-Prognose liest sich wenig verheißungsvoll, vor allem für die deutsche Wirtschaft. Wer wird sich als Wachstumsträger entpuppen?
Die Wachstumsträger in Europa sind die südeuropäischen Staaten: Griechenland, Portugal, Spanien und in gewissen Grenzen auch Italien. Wir haben ein klares Süd-Nord-Gefälle. Die Länder in Südeuropa haben nach der Eurokrise ihre Hausaufgaben gemacht, sie sind bessere Wirtschaftsstandorte geworden. In Deutschland sind wir hingegen längere Zeit bei den Reformen nicht vorangekommen, das macht uns jetzt zu schaffen. Außerdem ist Südeuropa weniger betroffen vom kräftigen Gegenwind, der der deutschen Industrie aus China ins Gesicht bläst. Und: Südeuropa profitiert von einem gewissen fiskalischen Impuls, weitgehend finanziert aus dem Nachpandemieprogramm der EU.
Bleiben wir bei der Politik: Was müsste sie konkret tun, um den Standort Deutschland mehr zu fördern und das Wachstum zu beleben?
Um die Konjunktur kurzfristig zu beleben, sind wir vorläufig vor allem auf außenwirtschaftliche Impulse angewiesen. Die wird es aber wahrscheinlich bis zum Frühjahr kommenden Jahres nicht geben. In den USA erleben wir gerade eine sanfte Landung der Konjunktur. Das heißt, eine kurze Phase − etwa von Ende 2024 bis Anfang 2025 −, in der das Wirtschaftswachstum in den USA unterhalb des 2-Prozent-Trends liegt. Was China anbelangt, so hoffen wir, dass der Gegenwind für die europäische Industrie nicht stärker wird.
Und mit Blick auf die Verbraucher, die sich trotz rückläufiger Inflation noch zurückhalten ...
Alles wäre gut, was das Vertrauen der Verbraucher stärkt und sie dazu veranlasst, ihre steigende Kaufkraft auch in Käufe umzusetzen. Mein persönlicher Wunsch in diesem Zusammenhang wäre, dass die Bundesregierung für den Rest ihrer Amtszeit vor allem Ergebnisse verkündet. Der interne Dauerstreit ist inzwischen ein Faktor, der in Deutschland die Stimmung drückt. Die Ausgabenneigung der privaten Haushalte und die Investitionsbereitschaft der Unternehmen leiden darunter. Der Rückgang der Ausrüstungsinvestitionen im zweiten Quartal um 4% war drastisch. Er ist ein Weckruf für die Politik, die Standort- und Investitionsbedingungen so schnell und so umfassend wie möglich zu verbessern. Auch bei den Chefvolkswirten im Bankenverband bröckelt inzwischen die Zuversicht, dass der Aufschwung in Kürze kommt.
Neben den konjunkturellen gibt es auch etliche strukturelle Herausforderungen. Welche sind am drängendsten?
Aus meiner Sicht ist die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung besonders drängend. Die Planungs- und Genehmigungsverfahren in der öffentlichen Verwaltung müssen schneller werden. Das gilt auch für unsere Gerichte. Dabei würde natürlich helfen, wenn wir insgesamt die Anforderungen bei diesen Verfahren entschlacken würden, also einfacher und transparenter machen. Wir brauchen zusätzlich eine moderne und funktionstüchtige öffentliche Infrastruktur. Das geht nur mit mehr Investitionen. Wir müssen auch die Digitalisierung vorantreiben und brauchen eine klare Perspektive für langfristig wettbewerbsfähige Energiepreise. Die Energiepreise in Deutschland sind im europäischen Vergleich immer noch zu hoch.
Die Unternehmenssteuern sind ja auch vergleichsweise hoch.
Richtig, auch an die Unternehmensbesteuerung müssen wir heran. Wir brauchen eine Unternehmensbesteuerung, die im internationalen Vergleich konkurrenzfähig ist. Und noch ein Punkt ist mir wichtig: Wir müssen darauf achten, dass die Beiträge zu den Sozialversicherungen − die sogenannten Lohnnebenkosten der Unternehmen − nicht wieder kräftig steigen. Die hohen Lohnnebenkosten waren ein wesentlicher Grund dafür, dass Deutschland in den späten 1990er Jahren zum kranken Mann Europas geworden ist.
Sie haben die Energiepreise angesprochen, die mittlerweile zwar nachgegeben haben, aber im internationalen Vergleich immer noch hoch sind. Wie groß ist das Risiko, dass Firmen ihre Produktion auslagern?
Ich glaube, dass der Druck, die Produktion wegen der Energiepreise zu verlagern, mittlerweile etwas nachlässt. Die Energiepreise haben nachgegeben. Die Chefvolkswirte sehen es als einen kleinen Lichtblick im Konjunkturbild, dass die Produktion in energieintensiven Bereichen wieder nach oben gegangen ist. Zum Beispiel in der chemischen Industrie. Allerdings werden Unternehmen, die sich bei den hohen Energiepreisen entschlossen haben, weniger in Deutschland zu investieren, ihre Pläne wohl weitgehend umsetzen. Wir werden also als Folge des Energiepreisschocks einen gewissen Verlust an industrieller Substanz und an Arbeitsplätzen sehen. Und dennoch gilt: Umso mehr wir die Standortbedingungen bei der Energieversorgung sowie bei anderen wichtigen Stellschrauben verbessern, desto weniger industrielle Wertschöpfung werden wir insgesamt verlieren.
Was wäre denn eine schnell zu bedienende Stellschraube?
Aus meiner ganz persönlichen Sicht wäre das zum Beispiel grünes Licht der Bundesregierung für das Fracking. Ich bin im Emsland geboren, da gibt es Kapazität. Allein das Signal, dass man diese Technologie zulässt und die Genehmigungsprozesse schnell voranbringt, könnte bei den Energiepreisen und bei den Erwartungen der Unternehmen bezüglich der künftigen Energiepreise viel bewegen. Das wäre − den politischen Willen vorausgesetzt − schnell umsetzbar.
Wie groß sind denn Ihre Sorgen um den Arbeitsmarkt? Zuletzt gab es ja immer mehr Berichte über Stellenstreichungen oder entsprechende Pläne. Und auch die Insolvenzzahlen steigen.
Wir erwarten einen leichten Anstieg der Arbeitslosigkeit. Es gibt zudem eine gewisse strukturelle Verschiebung: In Teilen des Dienstleistungssektors werden noch händeringend Arbeitskräfte gesucht. Sei es in der Pflege, sei es in der Gastronomie. Hier dürfte es einen weiteren Beschäftigungsaufbau geben, der teilweise ausgleicht, dass in der Industrie Arbeitsplätze verloren gehen. Doch auch in der Industrie wird man versuchen, Fachkräfte möglichst lange zu halten. In den letzten Jahren haben sehr viele Unternehmen erfahren, wie schwer es ist, Fachkräfte zu gewinnen. Und: Demografisch bedingt werden wir einen zunehmenden Mangel an Fachkräften haben.
Abhilfe wird ja in der Zuwanderung gesehen − genügen denn die Initiativen, die die Bundesregierung diesbezüglich angeschoben hat?
Ich habe mir das Fachkräfteeinwanderungsgesetz vor kurzem einmal näher angeschaut: Da steckt wirklich viel Gutes drin. Jetzt ist es wesentlich, dass man die Möglichkeiten und Ziele des Gesetzes auch in der Verwaltung schnell umsetzt. Da hat die Bundesregierung tatsächlich einen großen Schritt geschafft.
Werfen wir einen kurzen Blick in die Zukunft: Nächstes Jahr wird gewählt − was erhoffen Sie sich von der kommenden Regierung?
Wir erhoffen uns von der Politik neue Impulse gerade in den Bereichen, die wir schon genannt haben: Deregulierung, Modernisierung der öffentlichen Verwaltung und − hoffentlich auch − eine wettbewerbsfähigere Besteuerung der Unternehmen. Schlüssige Konzepte für diese Bereiche wären ein großer Fortschritt.
In den USA steht in diesem Jahr die Wahl zwischen Kamala Harris und Donald Trump an. Welcher Ausgang wäre für die Wirtschaft besser?
Für die US-Wirtschaft ist auch der Ausgang der Kongresswahlen wichtig. Wenn die beiden Häuser des Kongresses in unterschiedlichen Händen bleiben, würden sie sich weitgehend gegenseitig blockieren. Dann gäbe es vermutlich künftig etwas weniger Fiskalimpulse für die US-Wirtschaft. Angesichts der hohen Staatsverschuldung in den Vereinigten Staaten wäre das eigentlich richtig.
Wenn Trump gewinnen würde ...
Wenn Trump gewinnt und gleichzeitig eine klare Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses erhalten würde, wäre mit einer erheblichen Steuersenkung zu rechnen. Das könnte kurzfristig die Konjunktur befeuern, hätte aber langfristig negative Folgen für die Staatsverschuldung. Zudem könnte die US-Notenbank bei einem neuen, kräftigen Fiskalimpuls ihre Zinsen kaum noch weiter senken. Das heißt, die Bürger würden für einen höheren Fiskalimpuls mit höheren Zinsen auf ihre Hypotheken zahlen. Zudem wäre mit mehr Handelsbarrieren und weniger Einwanderung sowie einem größeren politischen Druck auf die Notenbank zu rechnen. Das sind Risiken, die das US-Trendwachstum schwächen könnten.
Also auch weniger Impulse für die deutsche Exportwirtschaft.
Protektionistische Maßnahmen und handelspolitische Spannungen sind für Europa und gerade für Deutschland negativ.
Die anhaltenden geopolitischen Risiken könnten sich auch noch als Spielverderber von Welthandel erweisen.
Die geopolitischen Risiken bleiben im kommenden Jahr hoch, sie werden sich aber hoffentlich nicht dramatisch zuspitzen.
Der Welthandel erholt sich also zumindest leicht, aber die deutschen Exporte springen nicht so stark an wie früher. Woran liegt es, was kann man tun?
Der leichte Anstieg im Welthandel ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass China verstärkt auf den Weltmarkt drängt. China hat mit vielen Subventionen Überkapazitäten aufgebaut und bietet die zusätzliche Produktion günstig − oder zu günstig − auf dem Weltmarkt an. Wir müssen aufpassen, dass die Abhängigkeit von billigeren Einfuhren aus China nicht zu groß wird. Und im Fall eklatanter Handelsverzerrungen durch Subventionen ist die EU gefordert, sich auf gemeinsame Maßnahmen zu verständigen.
Wird die EU auch wirklich eingreifen?
In welchem Maße man eingreifen soll, ist eine Frage, die unter Volkswirten durchaus umstritten ist. Neben rein handelspolitischen Überlegungen spielen auch geostrategische Überlegungen eine Rolle. Tendenziell wird der Blick auf China in der EU aber kritischer.
Rückenwind für die Wirtschaft dürften die Zinswenden der EZB und der Fed bringen. Waren sie aber rechtzeitig und entschlossen genug?
Gemessen an der Kernrate ist die Inflation immer noch recht hoch. Insofern ist es für die Chefvolkswirte des Bankenverbands mehrheitlich nachvollziehbar, dass die Zentralbanken vorsichtig vorgehen und dass die US-Notenbank lange gezögert hat, bevor sie jetzt die Zinsen senkt. Auf der anderen Seite entwickelt sich die Euro-Konjunktur etwas schwächer als gedacht. Der konjunkturelle Blick spricht zurzeit also dafür, dass die EZB vielleicht etwas eher hätte handeln sollen. Wegen der hartnäckigen Dienstleistungsinflation ist die EZB jedoch nach Meinung vieler Chefvolkswirte gut beraten, vorsichtig und behutsam vorzugehen. Wir erwarten, dass sie das auch in den nächsten Monaten so halten wird.
Und die Fed?
Die Fed hat mit einem großen Schritt begonnen. Sie startet aber auch von einem recht hohen Zinsniveau von etwas über 5%, wodurch es mehr Spielraum nach unten gibt. Vermutlich wird sie das Tempo aber etwas verlangsamen. Wir halten es für wahrscheinlich, dass es in diesem Jahr noch zu zwei kleinen Zinsschritten von einem Viertelprozent kommt. Im nächsten Jahr wird es mit kleinen Schritten weitergehen. Die Mehrheit in unserem Kreis erwartet das Ende der Zinssenkungen bei einem Satz von etwa 3,5%. Da die Dienstleistungsinflation auch in den USA hartnäckig bleiben dürfte, denke ich persönlich, dass es gut wäre, wenn die Fed bereits bei einem Leitzins von etwa 4% aufhören würde.
Das Interview führte Alexandra Baude.
Holger Schmieding ist Chefvolkswirt der Berenberg Bank und Vorsitzender des Ausschusses für Wirtschafts- und Währungspolitik des Bundesverbandes deutscher Banken (BdB).