Brexit

Durchwinken als Krisenlösungsstrategie

Großbritannien will Waren aus der EU offenbar weiterhin weitgehend unkontrolliert an den Grenzen durchwinken, um die Versorgungssicherheit nicht zu gefährden. Gleichwohl steigen die Zolleinnahmen.

Durchwinken als Krisenlösungsstrategie

hip London

Im britischen Regierungsviertel Whitehall wird der Zeitung „Telegraph“ zufolge erwogen, den Güterverkehr aus der EU an den Grenzen weiterhin durchzuwinken, damit in der Vorweihnachtszeit keine Versorgungsprobleme entstehen. Dem Einzelhandel macht bereits der anhaltende Lkw-Fahrer-Mangel schwer zu schaffen. Großbritannien hatte die Durchführung von sanitären und phytosanitären (SPS) Kontrollen, die von der EU unmittelbar bei Wirksamwerden des britischen Austritts eingeführt wurden, unter Verweis auf die Pandemie vom März in den Oktober verschoben. Eine erneuter Aufschub sei sehr wahrscheinlich, berichtet das Blatt unter Berufung auf hochrangige Beamte. Zu den Optionen, die geprüft würden, gehöre eine Verschiebung um weitere sechs Monate. „Wann wird Großbritannien endlich die Kontrolle über seine Grenzen übernehmen?“, fragt das konservative Blatt. Die „peinliche Wahrheit“ sei, dass sich das Land nicht ausreichend auf den Brexit vorbereitet habe.

Neben britischen Importeuren und Transportunternehmern trommelt auch die irische Regierung für eine Vertagung. Schließlich verkauft die Republik im Süden der Grünen Insel dem Vereinigten Königreich landwirtschaftliche Erzeugnisse in großem Stil. Die Exportwirtschaft, die sich vom ersten Tag an mit EU-Zöllen und nichttarifären Handelshemmnissen auseinandersetzen musste, sieht sich durch die asymmetrische Situation benachteiligt. Wie die Wirtschaftsprüfer von UHY Hacker Young auf Grundlage der Angaben der Zollbehörde HMRC ermittelt haben, zahlten britische Unternehmen und Verbraucher seit Wirksamwerden des Brexit zu Jahresbeginn 42% mehr Zoll als im vergleichbaren Vorjahreszeitraum. Was auf den ersten Blick enorm wirkt, wird durch den Umstand relativiert, dass die erste Hälfte des vergangenen Jahres in hohem Maße von Ausgangssperren zur Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie geprägt war. Sieht man genauer hin, ist der „Rekordwert“ von 2,22 (i.V. 1,56) Mrd. Pfund, die bislang an den Fiskus gingen, von den 2019 abgeführten 1,89 Mrd. nicht ganz so weit entfernt. Den Wirtschaftsprüfern zufolge geht der Anstieg größtenteils auf die sogenannten Ursprungsregeln (Rules of Origin) zurück, die für Waren gelten, die zwar aus der EU eingeführt, aber nicht dort hergestellt wurden bzw. in anderen Ländern produzierte Komponenten enthalten. „Britische Unternehmen haben weder genug Zeit noch Hilfe erhalten, um sich auf die Kosten des Brexit und das Ausmaß des Papierkriegs vorzubereiten“, sagt Michelle Dale, Senior Manager bei UHY Hacker Young.

Nordirische Komplikationen

Für zusätzliche Komplikationen sorgt das Nordirland-Protokoll der EU-Austrittsvereinbarung. Wie die Zeitung „Guardian“ berichtet, hatte die Kaufhauskette Marks & Spencer bereits im Januar darauf hingewiesen, dass sie womöglich Zoll für die Lieferung ihrer Fruchtgummischweinchen aus Großbritannien an nordirische Filialen bezahlen muss. „Percy Pig“ wird von Katjes in Deutschland, also in der EU, produziert. Weil die Süßigkeiten aber aus Großbritannien „reexportiert“ werden, könnte Einfuhrzoll erhoben werden. Das Problem ist nach wie vor ungelöst, wie das Blatt unter Berufung auf William Bain berichtet, der beim britischen Handelskammerverband BCC für das Thema Handelspolitik verantwortlich zeichnet.