„Es wird endlich Zeit für differenziertere Maßnahmen“
Alexandra Baude.
Herr Schneider, die Sorgen vor einer dritten Coronawelle steigen. Wie viel Lockdown verträgt die Wirtschaft, bevor sie in eine Rezession rutscht oder nachhaltige Schäden entstehen?
Das lässt sich so pauschal nicht beantworten. Die wirtschaftlichen Folgen des aktuellen Lockdowns unterscheiden sich ja auch deutlich vom Lockdown im Frühjahr 2020. Große Bereiche der Industrie sind diesmal kaum betroffen. Außerdem profitiert die deutsche Wirtschaft davon, dass die Weltwirtschaft wieder Fahrt aufgenommen hat – besonders von der lebhaften Entwicklung in China. Dennoch: Je länger der Lockdown anhält, desto größer wird die Gefahr, dass in den unmittelbar betroffenen Sektoren langanhaltende Schäden bleiben, dass Unternehmen aufgeben und Beschäftigte entlassen müssen.
Hat die Regierung genug und das richtige getan – mit dem Konjunkturpaket und Hilfsmaßnahmen wie die Erleichterung beim Kurzarbeitergeld oder die ausgesetzte Insolvenzantragpflicht?
Wenn man auf den Beginn der Pandemie schaut, heißt meine Antwort ganz klar Ja. Doch nach fast einem Jahr wird es nun endlich Zeit für differenziertere Maßnahmen. Das heißt konkret, dass wir bei den Hilfen weg vom Prinzip Gießkanne müssen und uns stärker auf Hilfen für die unmittelbar Betroffenen konzentrieren sollten. Zudem sinkt der Nutzen durch die ausgesetzte Insolvenzantragspflicht. Diese Regelung sollte nicht mehr weiter verlängert werden. Unternehmen, die untereinander in Lieferbeziehungen stehen, müssen wieder eine größere Sicherheit über die finanzielle Lage ihrer Kunden erhalten.
War es genug auch mit Blick auf die langfristigen Folgen, die die Coronakrise für die Schul- und Erwerbsbiografie von Frauen, Geringverdienern, Auszubildenden und Jugendlichen hat?
Bislang sind die Pandemiemaßnahmen überwiegend kurzfristige Nothilfen. Jetzt müsste politisch umgesteuert werden, um auch den möglichen längerfristigen Folgen der Pandemie zu begegnen. Mehr noch: Die Wirtschaftspolitik muss bei diesem Umsteuern auch den Strukturwandel immer mitdenken: also auf die Energiewende und das Vorantreiben der Digitalisierung setzen. Allerdings gilt trotz aller Härten, dass auch Eigeninitiative wohl mehr denn je gefordert ist. Der Staat hat nicht die Ressourcen, die Bürger für alle Widrigkeiten zu kompensieren.
Rechtfertigt die Coronakrise, die Schuldenbremse über dieses Jahr hinaus auszusetzen?
Realistischerweise brauchen wir die Flexibilität der Schuldenbremse auch im kommenden Jahr noch. Die Gefahr eines zu starken Abbremsens wäre sonst zu groß. Es gibt ja auch immer noch große Unsicherheiten, wie es mit der Pandemie weitergeht. Grundsätzlich müssen wir uns aber darauf konzentrieren, dass wir die öffentlichen Haushalte mit einer Wachstumsoffensive konsolidieren, also aus den Schulden rauswachsen. Dazu brauchen wir vor allem gute Rahmenbedingungen für Investitionen und Innovationen.
Sind Steuererhöhungen der Ausweg aus den höheren Schulden, vielleicht sogar ein Covid-Soli?
Ich warne hier vor einer voreiligen, vor allem einseitigen Diskussion. Ein Covid-Soli wäre ein rein defensiver Ansatz, um die angehäuften Schulden herunterzufahren. Wir sollten uns zunächst aber um offensive Wege bemühen – also für einen wirtschaftlichen Aufbruch sorgen, der uns dann bei der Haushaltskonsolidierung Rückenwind gibt.
Woher kommt Ihr Optimismus, dass die Coronakrise kaum Jobs kosten und der Privatkonsum kräftig zulegen wird?
Zum einen sehen wir, wie auch die meisten internationalen Prognostiker, eine dynamische Erholung der Weltwirtschaft. Außerdem gehen wir davon aus, dass im Frühsommer die Infektionszahlen dank der Impfungen und günstiger Witterung deutlich sinken. Daher erwarten wir, dass die deutsche Wirtschaft nach einem schwachen ersten Quartal im Sommerhalbjahr kräftig Fahrt aufnimmt und im Gesamtjahr um fast 4% zulegt. Vor diesem Hintergrund bleibt der Arbeitsmarkt stabil und die Menschen werden einen Teil des lockdownbedingten Konsumverzichts nachholen. Das schiebt den privaten Konsum zusätzlich an.
Die Industrie war lange das Sorgenkind, nun ist sie wieder Wachstumsstütze, auch dank des stabilisierten Welthandels. Wie ist die starke Exportorientierung langfristig gesehen zu bewerten?
Die Exportorientierung ist zunächst einmal Ausdruck für eine Stärke dafür, dass die deutsche Wirtschaft sehr eng und intensiv in die globale Wirtschaft eingebunden ist und dort auch bestehen kann. Wirtschaftspolitisch sollten wir uns nun allerdings auch darum bemühen, Deutschland als Investitionsstandort attraktiv zu halten. Dazu gehören zum Beispiel eine moderne und leistungsfähige Infrastruktur, aber auch Investitionen in das Bildungssystem, in eine beschleunigte Digitalisierung und für eine nachhaltige Wirtschaft.
Sie attestieren der deutschen Wirtschaft eine längerfristige Investitionsschwäche, nicht zuletzt wegen der sich verschlechternden Standortbedingungen. Was sollte sich ändern?
Wir bräuchten generell den viel zitierten Ruck in Richtung „mehr Investitionen und Zukunft wagen“. Dazu gehören an erster Stelle bessere Investitionsbedingungen, etwa eine international wettbewerbsfähige Unternehmensbesteuerung und eine moderne Infrastruktur. Bei vielen öffentlichen und privaten Investitionen erweisen sich zudem vor allem aufwendige Genehmigungsverfahren und umfangreiche Auflagen als große Hürde. Auch hier muss man ansetzen, unter anderem mit einer schnelleren Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung. Da hat die Pandemie doch einige Baustellen schonungslos aufgedeckt.
In den USA fürchten viele eine Überhitzung der Wirtschaft durch die billionenschweren Konjunkturhilfen, im Euroraum dominiert die Sorge um die Produktionslücke. Müsste die europäische Fiskalpolitik auch mehr tun?
Mit dem europäischen Wiederaufbaufonds (Recovery Fund) hat Europa finanzpolitisch gut reagiert. Jetzt ist es Aufgabe der Wirtschaftspolitik, in jedem einzelnen Mitgliedstaat dafür zu sorgen, dass der Wiederaufbaufonds erfolgreich umgesetzt wird. So sollen die Mittel vorrangig für Zukunftsinvestitionen verwendet werden und durch Strukturreformen begleitet werden. Leider sind an dieser Stelle die beiden größten Länder in der EU keine Musterschüler, nämlich Deutschland und Frankreich.
Die Gelder aus dem milliardenschweren Hilfstopf der EU fließen wohl nicht so wie erhofft. Ein Konstruktionsfehler – oder hat die Europäische Zentralbank (EZB) das Dilemma mitverursacht, indem sie die Finanzierungskosten für Staaten mittels Nullzins und Anleihekäufen so niedrig hält?
Die Auszahlungen starten ja erst im zweiten Halbjahr, nachdem die Länder der Kommission bis Ende April ihre Investitionspläne vorgelegt haben. Die Auflagen der EU-Kommission sind berechtigt und letztendlich hilfreich. Allerdings muss die EU-Kommission mit dem Dilemma umgehen, dass die Mittel in zukunftsfähige Projekte fließen sollen, es aber auch möglichst schnell gehen muss. Die Politik der EZB reduziert, wie bereits in den vergangenen Jahren, den Druck auf Regierungen, die Kapitalmärkte schnell mit schlüssigen Investitions- und Reformvorhaben überzeugen zu müssen.
Die EZB unterstützt in der Krise mit Anleihekäufen gezielt einzelne Länder wie Italien, um ein Auseinanderdriften der Währungsunion zu verhindern. Überzieht sie damit?
Natürlich geht die EZB damit hart an die Grenze ihres Mandats, gerade in Deutschland meinen viele, dass diese überschritten wurde. Aber die EZB ermöglicht derzeit Euro-Staaten, die Covid-19-bedingten Defizite zu finanzieren, ohne dass es zum Crowding-out, zu einem deutlichen Zinsanstieg kommt, der dann auch die Privatwirtschaft ausbremsen würde. Früher oder später wird es notwendig sein, aus dieser lockeren Geldpolitik auch wieder auszusteigen. Es wäre daher gut, wenn die Eurostaaten schon jetzt ein klares, grundsätzliches Bekenntnis zur Haushaltskonsolidierung abgeben würden.
Die EZB überprüft noch bis zum Sommer ihre Strategie. Erwartet wird eine Umstellung auf ein symmetrisches Inflationsziel von 2%. Werden wir weitere fundamentale Änderungen sehen?
Wir rechnen damit, dass Elemente einer grünen Geldpolitik eingeführt werden. Den bevorzugten Kauf von grünen Anleihen im Rahmen von Kaufprogrammen sehen wir allerdings aus mehreren Gründen kritisch. Die EZB wird die erworbenen Papiere in einem anderen ökonomischen Umfeld irgendwann auch wieder verkaufen müssen. Müsste diese geldpolitische Maßnahme dann aus umweltpolitischen Gründen gestoppt werden? Unseres Erachtens sollte man daher stärker über mögliche Vergünstigungen bei den Sicherheiten nachdenken, die die Banken für den Zugang zum Zentralbankgeld hinterlegen müssen.
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