Europas Mondfahrt
Von Andreas Heitker, BrüsselDie Europäische Union ist bereit für eine ambitionierte Klimapolitik. Dies war das klare Signal, dass sowohl die neue EU-Kommission als auch der Europäische Rat im Dezember gesendet haben. Die Kommission hat gleich nach Amtsantritt ihren “Green Deal”-Fahrplan veröffentlicht und schon für 2020 ein ganzes Feuerwerk an gesetzgeberischen Vorschlägen und Initiativen angekündigt. Und der Rat hat es trotz schwieriger Ausgangslage beim EU-Gipfel Mitte Dezember geschafft, sich auf das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 zu verständigen. Zwar ist es nicht ganz korrekt, von einer Einigung zu sprechen, da Polen noch nicht an Bord ist. Aber das Land stellt sich den anderen zumindest nicht in den Weg.Der neue EU-Ratspräsident Charles Michel räumte in Brüssel ein, es habe schon einiges an “Kreativität” bedurft, um in diesem Fall eine Einigung zu verkünden. Aber der Belgier wollte den Erfolg auf dem ersten von ihm geleiteten Gipfel mit aller Macht. Michel geht nämlich davon aus, dass der Beschluss Europas Wirtschaft in eine Vorreiterrolle bringt, was neue Innovationen und Milliarden an Investitionen nach sich zieht. Die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen drückte es so aus: “Der europäische Grüne Deal ist unsere neue Wachstumsstrategie – für ein Wachstum, das uns mehr bringt, als es uns kostet.” Unterschiedliche AmbitionenIst die Klimapolitik damit auch das neue positive Narrativ der Europäischen Union? Ist hier ein Thema gefunden, das nach den vielen Krisen des vergangenen Jahrzehnts wieder ein positives, der Zukunft zugewandtes Bild der EU nach innen wie nach außen prägen kann? Ist der Grüne Deal vielleicht sogar der Kit für einen stärkeren Zusammenhalt in der Union?Experten wie der Politikwissenschaftler Robert Stüwe vom Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI) der Universität Bonn, der das dortige Forschungsprojekt zur Arbeit der EU-Kommission betreut, sind da vorsichtig. “Damit der Green New Deal eine einheitsstiftende Wirkung entfaltet, muss er auf sozial gerechte Instrumente setzen und den Emissionshandel so ausbauen, dass er nicht einseitig zu Lasten der Staaten mit einem größeren technologischen Rückstand geht”, sagt Stüwe: “Das betrifft in erster Linie die postsozialistischen Visegrád-Staaten.”Die Ausgangslage für die große Transformation in eine nachhaltige Wirtschaft ist halt sehr unterschiedlich. Polen stellte sich beim jüngsten Gipfel nicht ohne Grund quer: Das Land bezieht heute noch rund 80 % seines Stroms aus Kohlekraftwerken. Der Weg in die Klimaneutralität würde das Land nach Berechnungen der EU-Kommission rund 4 % seines jährlichen Bruttoinlandsprodukts (BIP) kosten.Hinzu kommt: Auch die Ambitionen der europäischen Bevölkerung in der Klimapolitik sind höchst unterschiedlich. Dies zeigen verschiedene Studien immer wieder. Eine vor wenigen Wochen veröffentlichte europaweite Umfrage des EU-Parlaments zeigte zum Beispiel, dass in Greta Thunbergs Heimatland Schweden mehr als 60 % der Bürger der Meinung sind, der Kampf gegen den Klimawandel sei die wichtigste Aufgabe des EU-Parlaments. In Bulgarien sind nur 14 % dieser Ansicht, in Lettland 15 % und in Rumänien und Griechenland 17 % (siehe Grafik). In den Armenhäusern der EU werden offenbar andere Probleme für weitaus dringender erachtet als im gut situierten Skandinavien.Eine vor rund einem Monat veröffentlichte repräsentative Umfrage der Bertelsmann Stiftung in der EU-27 zu den Erwartungen der Bürger an die neue EU-Kommission zeigte ebenfalls gehörige Unterschiede – und dies nicht nur zwischen Ost und West. Insgesamt gehörte die Klima- und Umweltpolitik bei insgesamt 40 % der Befragten zu einem ihrer zwei Top-Themen für die künftige europäische Agenda. In Deutschland setzten die Befragten das Thema Umweltschutz mit 49 % ganz klar nach oben auf ihrer Prioritätenliste. Arbeitsplätze rangierten bei Deutschen mit lediglich 17 % unter “ferner liefen”. Einen ganz anderen Stellenwert hat das Job-Thema dagegen in Italien (60 %), Spanien oder Frankreich (je 40 %). In Spanien setzte kaum jeder Dritte (32 %) Umweltschutz auf die To-do-Liste nach oben. In der Studie wurde darauf verwiesen, dass die Ergebnisse erneut eine “zerrissene europäische Öffentlichkeit” zeigten, mit der die Von-der-Leyen-Kommission jetzt umgehen müsse. Reißt die neue ambitionierte Klimapolitik als doch vielleicht nur neue Gräben innerhalb der Union auf beziehungsweise vertieft die bisherigen Nord-Süd- und Ost-West-Spaltungen nur noch mehr? KompromissbereitschaftEine eindeutige Antwort auf diese Frage ist derzeit noch kaum möglich. Das Thema ist sensibel, und doch scheinen zurzeit alle Staaten in der EU-27 bereit, Zugeständnisse zu machen und an der erhofften Erfolgsgeschichte mitzuarbeiten.Ein Beispiel hierfür ist der EU-Gipfel, auf dem es gelungen ist, Tschechien und Ungarn mit ins Boot zu holen. Ein anderes Beispiel ist der Kompromiss, der nur wenige Tage später beim Klassifizierungssystem für grüne Investments (Taxonomie, siehe hierzu auch Seite 40) gefunden wurde – nach zuvor heftigem Streit über die Rolle der Atomkraft. Hier kamen Zugeständnisse vor allem aus Frankreich. Das Ergebnis war “eine positive und ausgewogene Einigung”, wie auch die Verbraucherschützer von Finance Watch lobten. Wenige Tage nach den enttäuschenden Ergebnissen der Weltklimakonferenz von Madrid habe Europa eine klare Führungsrolle gezeigt.Von der Leyen hat ihren “Green Deal” als “Europas Mann-auf-dem-Mond-Moment” bezeichnet. Die Mitgliedstaaten scheinen bereit, die EU-Kommission beim Bau der Rakete zu unterstützen. Bis diese dann aber irgendwann einmal auf dem Mond ankommt, werden wohl noch viele kleinere und größere Widerstände zu überwinden sein.