Großbritannien

„Freedom Day“ erfüllt viele Briten mit Sorge

Am Montag werden fast alle rechtsverbindlichen Corona-Restriktionen in Großbritannien aufgehoben. Doch steigende Neuinfektionen sorgen dafür, dass sich nicht viel ändern wird.

„Freedom Day“ erfüllt viele Briten mit Sorge

hip London

Die vom britischen Premierminister Boris Johnson einst als „Freedom Day“ verkaufte Aufhebung eines Großteils der Corona-Restriktionen der Regierung am 19. Juli hat bei vielen Briten mehr Besorgnis als Freude ausgelöst. Die Neuinfektionen haben in den vergangenen Wochen drastisch zugenommen. Das führte zwar nicht zu einem vergleichbaren Anstieg der Krankenhauseinlieferungen und Todesfälle, doch vermeidet ein wesentlicher Teil der Bevölkerung den öffentlichen Nahverkehr, Einkaufszentren und Veranstaltungsorte. Immerhin zwei Fünftel fürchten weiterhin, sich anzustecken. Einer Yougov-Umfrage zufolge wollen 71 % der Briten im öffentlichen Nahverkehr auch weiterhin Maske tragen, zwei Drittel auch in öffentlichen Gebäuden und in Geschäften. Wie Realtime-Indikatoren zeigen, hat sich das öffentliche Leben noch lange nicht normalisiert (siehe Grafik).

Eine Reihe von Wissenschaftlern warnte bereits vor einer vorschnellen Lockerung der Kontaktbeschränkungen – auch unter Verweis auf eine mögliche Grippewelle, die das marode öffentliche Gesundheitswesen NHS im Herbst erneut an den Rand des Zusammenbruchs führen könnte. Auch Chris Whitty, der als Chief Medical Officer in den vom Fernsehen übertragenen Pressekonferenzen stets an der Seite von Johnson auftrat, mahnte erneut zur Vorsicht. Großbritannien sei aus dem Schlimmsten noch nicht heraus. „Wir sollten nicht unterschätzen, dass wir schnell wieder in Schwierigkeiten geraten können“, sagte er auf einem Webinar des Wissenschaftsmuseums am Donnerstagabend. Wenn die Zahl der Menschen, die mit Covid-19 im Krankenhaus liegen derzeit niedrig sei, bedeute das nicht, dass das auch in fünf, sechs, sieben oder acht Wochen noch so sein müsse. Es sei von großer Bedeutung, dass die Menschen „es sehr langsam angehen lassen“, wenn am Montag die rechtsverbindlichen Restriktionen fallen. Derzeit gebe es etwa 2 000 Covid-Patienten in den Krankenhäusern. Sollte sich ihre Zahl auf 4 000 verdoppeln und in diesem Tempo weiter steigen, habe man es schnell mit einer sehr großen Anzahl zu tun. Für die Regierung wäre das eine Katastrophe. Denn dann wäre die Aufhebung der Corona-Einschränkungen nicht irreversibel, wie von Johnson ver­sprochen. Es müsste vielmehr mit erneuten Ausgangsbeschränkungen gerechnet werden.

Für viele wird sich nicht viel in ihrem Alltag ändern. Öffentliche Nahverkehrsbetreiber wie Transport for London haben bereits angekündigt, an der Maskenpflicht festzuhalten. Auch in der Londoner Zentrale von Goldman Sachs will man sich nicht von den Gesichtsbedeckungen verabschieden. J.P. Morgan stellt „City AM“ zufolge vollständig ge­impften Mitarbeitern in den USA frei, ob sie Masken tragen wollen. In Großbritannien bleiben sie dem Blatt zufolge einstweilen vorgeschrieben. Zahlreiche Arbeitgeber haben nicht vor, plötzlich die gesamte Belegschaft ins Büro zurückzubeordern.

Chaos durch Track & Trace

Unterdessen steigt die Zahl der Menschen, die von der NHS-Kontaktverfolgungsapp Track & Trace nach einem vermeintlichen Kontakt mit Infizierten zur Selbstisolation aufgefordert werden, rasant an. In der Woche zum 7. Juli wurden 520 194 Menschen auf diese Weise benachrichtigt – 46 % mehr als in der Woche zuvor. Das führt zu erheblichen Personalausfällen im Gesundheitswesen und bei anderen kritischen öffentlichen Diensten. Denn es spielt keine Rolle, ob man schon zweifach geimpft ist. In Quarantäne müssen die Betroffenen allemal. Der Gewerkschaft Unite zufolge drohen landesweit Werksstilllegungen, weil zu viele Belegschaftsmitglieder von der App zum Daheimbleiben aufgefordert wurden. Sky News zufolge ist die Autobranche besonders betroffen. Bei Nissan in Sunderland fehlen 700 Mitarbeiter. Rolls-Royce äußerte sich „extrem besorgt“ zur Lage im Werk Goodwood. Der Beginn der Schulferien dürfte für etwas Entspannung sorgen. Allerdings ist bislang völlig unklar, wie in den Schulen weiter verfahren werden soll. Es wurde auch noch kein Impfstoff für Jugendliche freigegeben.