Großbritannien erholt sich schneller
hip London
Die britische Wirtschaft ist im Schlussquartal 2020 stärker gewachsen als bislang unterstellt. Weil das Statistikamt ONS zugleich einen Anstieg der Sparquote der privaten Haushalte von 14,3 % auf 16,1 % registrierte, wurden Hoffnungen auf eine schnelle Erholung von der Coronakrise wach. Sie lag damit zwar weit unter dem im zweiten Quartal 2020 erreichten Wert von 25,9 %, vor der Pandemie hatte sie sich aber meist nur zwischen 6 % und 7 % bewegt. Der HSBC-Volkswirt Chris Hare wertete die Daten als „weitere Bestätigung dafür, dass sich die öffentlichen und privaten Sektoren im Vergleich zum vergangenen April besser an die Bedingungen unter einem Lockdown angepasst haben“. Es gebe allerdings viele Gründe, vorsichtig zu bleiben. Die Haushalte hätten zwar erhebliche Ersparnisse aufgebaut. Allerdings wisse man nicht, wann oder wofür sie das Geld ausgeben werden.
Das Statistikamt nahm seine Schätzung für das Wirtschaftswachstum im Schlussquartal von 1,0 % auf 1,3 % nach oben. Volkswirte hatten keine Veränderung erwartet. Es war nicht die einzige Revision. Im dritten Quartal expandierte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) nicht nur um 16,1 %, sondern um 16,9 %. Allerdings war auch der vorangegangene Einbruch im zweiten Quartal tiefer als bislang angenommen. Es ging um 19,5 % nach unten, nicht nur um 19,0 %.
Vom Messen und Schätzen
Das bestärkte all diejenigen, die zeigen wollen, dass die Pandemie in Großbritannien die schlimmsten wirtschaftlichen Auswirkungen zeitigte. Dafür kann man viele Gründe anführen: die Überalterung der Gesellschaft oder die Abhängigkeit vom Dienstleistungssektor etwa. David Owen, der Europa-Chefvolkswirt der US-Investmentbank Jefferies, wird aber nicht müde, darauf hinzuweisen, dass „ein Teil der angeblichen Underperformance der britischen Wirtschaft im vergangenen Jahr ein Messproblem war“ . Wie das Statistikamt bereits im Februar in einem Blogeintrag klarstellte, ist die unterschiedliche Erfassung des Outputs des öffentlichen Sektors daran schuld, dass der Einbruch der britischen Wirtschaftsleistung im vergangenen Jahr wesentlich größer ausfiel als in anderen Ländern. „Wir nutzen eine breite Auswahl detaillierter Daten der Regierung, etwa wie viele Menschen einen Arzt aufgesucht haben, wie viele Operationen stattgefunden haben und wie viele Schüler eine Ausbildung erhalten haben“, führte der für die BIP-Daten verantwortliche Statistiker Rob Kent-Smith aus. „Weil die Schulen geschlossen waren und viele nicht zwingend nötige medizinische Eingriffe verschoben wurden, verzeichneten wir in Großbritannien zu Beginn der Pandemie einen starken Rückgang des Outputs bei öffentlichen Dienstleistungen.“
In anderen Ländern seien diese Daten nicht unbedingt gleich verfügbar. Deshalb schätzten sie einfach den Output ihres öffentlichen Sektors, indem sie berücksichtigten, wie viel Geld dafür aufgewendet wurde, oder auf Grundlage der Arbeitsstunden des öffentlichen Dienstes. Weil die Ausgaben dafür mehr oder weniger unverändert geblieben seien, hätten diese Länder nicht die gleichen starken Rückgänge im Output des öffentlichen Sektors verzeichnet. Mache man es ebenso, sei der Rückgang des britischen BIP alles in allem vergleichbar mit anderen G7-Staaten und kleiner als in Deutschland, Italien und Kanada. „Aber die ‚realen‘ Schätzungen spiegeln die Veränderungen bei den gelieferten Dienstleistungen besser wider“, konstatierte Kent-Smith.
Nach Rechnung von Jefferies schrumpfte das nominale BIP 2020 zwar etwas stärker als in Deutschland oder in den Vereinigten Staaten. Großbritannien habe sich aber wesentlich besser geschlagen als Frankreich oder Spanien.
Das Leistungsbilanzdefizit weitete sich im Schlussquartal von 13,8 Mrd. auf 22,8 Mrd. Pfund aus. Das entspricht 4,8 % des BIP.