Jörg Angelé, Bantleon Bank

Höhere Euro-Inflation trotz negativer Produktionslücke möglich

Die Inflation im Euroraum hat zu Jahresbeginn einen starken Sprung nach oben gemacht und dürfe weiter zulegen. Viele Beobachter halten das für einen rein temporären Effekt. Sie könnten sich täuschen.

Höhere Euro-Inflation trotz negativer Produktionslücke möglich

Seit die Inflationsrate der Eurozone im Januar überraschend stark von –0,3% auf +0,9% in die Höhe geschnellt ist, zeichnet sich ab, dass die Verbraucherpreise 2021 stärker steigen werden als noch bis vor kurzem vermutet. Zahlreiche Analysten argumentieren allerdings, der Inflationsanstieg in diesem Jahr gehe quasi ausschließlich auf eine Reihe von Sondereffekten zurück und sei daher nicht nachhaltig. Ein Hauptargument der Inflationsskeptiker ist die sogenannte Produktionslücke, englisch: Output Gap.

Eine negative Produktionslücke ist gleichzusetzen mit der Unterauslastung der gesamtwirtschaftlichen Kapazitäten. In einem solchen Umfeld, so die Theorie, ist es den Unternehmen nicht möglich, höhere Preise für ihre Produkte durchzusetzen. Erst wenn die Wirtschaft wieder so weit in Schwung gekommen ist, dass die Produktionslücke ins Positive gedreht hat, besteht demzufolge Raum für eine Zunahme des unterliegenden Preisauftriebs und damit eine nachhaltig höhere Inflationsrate.

Erholung erwartet

Mit dem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 6,8% im abgelaufenen Jahr ist die Produktionslücke der Eurozone zweifellos massiv in den negativen Bereich abgesackt. Selbst unter günstigen Umständen dürfte sie nicht vor dem zweiten Halbjahr 2022 in den positiven Bereich zurückkehren. Aus diesem Grund, so das Narrativ der Inflationsskeptiker, wird der unterliegende Preisauftrieb – gemeint ist die Kerninflationsrate (ohne die schwankungsanfälligen Energie- und Lebensmittelpreise) – weder in diesem noch im nächsten Jahr nennenswert anziehen. Die Inflationsrate könne das Inflationsziel der Europäischen Zentralbank (EZB) daher erst 2024 erreichen bzw. nachhaltig übertreffen.

Wir können uns dieser Argumentation nicht anschließen. Unserer Meinung nach steht eine negative Produktionslücke einer deutlich steigenden Inflationsrate nicht im Weg. Denn entscheidend für die Zu- beziehungsweise Abnahme des unterliegenden Preisauftriebs ist mehr noch als das Ausmaß die Veränderung des Output Gap. Das heißt: Je rascher sich eine negative Produktionslücke schließt, desto stärker nimmt der unterliegende Preisauftrieb zu.

Wir rechnen ab dem Frühjahr infolge des Abklingens der Pandemie mit einem starken Konjunkturaufschwung. Die Produktionslücke wird sich in den nächsten Quartalen daher zügig verringern, mit entsprechenden Implikationen für die Teuerungsrate. Insbesondere die Nachfrage in den von der Pandemie am stärksten getroffenen Bereichen (Freizeit, Reisen, Restaurants) sollte sprunghaft zunehmen und teils merkliche Preiserhöhungen nach sich ziehen.

Eine Prognose auf Basis des Zusammenhangs zwischen der Veränderung der Produktionslücke und dem unterliegenden Preisauftrieb führt zu dem Ergebnis, dass sich die Kerninflationsrate bereits 2022 auf durchschnittlich 1,5% belaufen sollte. 2023 könnte der jahresdurchschnittliche Preisanstieg des Kernindex bereits bei rund 2% liegen. Demgegenüber ergeben sich auf Basis einer rein auf das Ausmaß der Produktionslücke fokussierten Betrachtung Kerninflationsratenprognosen von unter 1,0% bzw. unter 1,5%.

Dass sich deutlich höhere Preise sehr wohl auch bei einer stark negativen Produktionslücke durchsetzen lassen, wenn ein Produkt bzw. eine Dienstleistung nicht substituiert werden kann, zeigt das Beispiel der Friseursalons. Diese konnten ihre Preise nach Wiederöffnung im Frühsom­mer 2020 im Anschluss an den ersten Lockdown quasi eurozonenweit problemlos merklich an­heben.

Darüber hinaus spricht eine Reihe weiterer Gründe dafür, dass der unterliegende Preisauftrieb in den nächsten Jahren deutlich stärker anzieht als derzeit erwartet: die anhaltend ultraexpansive Geld- und Fiskalpolitik, die Abschwächung der Globalisierung, das Streben nach mehr sozialer Gerechtigkeit (unter anderem durch steigende Mindestlöhne) und der Klimaschutz (Stichwort CO2-Steuer).

EZB muss früher handeln

Entgegen der Meinung zahlreicher Analysten gehen wir nicht davon aus, dass eine negative Produktionslücke in den nächsten Jahren einer erkennbaren Zunahme des unterliegenden Preisdrucks entgegensteht. Vielmehr dürften die Verbraucherpreise auf die sich entladende massive Konsumnachfrage reagieren. Zusätzlich sollten weitere Faktoren wie höhere Mindestlöhne und steigende Kosten im Zusammenhang mit dem Klimaschutz für eine anziehende Inflationsrate sorgen. Das wird das makroökonomische Umfeld der vergangenen Jahre, das durch Deflationssorgen geprägt war, auf den Kopf stellen und nicht ohne Auswirkungen auf die Geldpolitik bleiben. Die EZB wird ihren Fuß rascher vom Gaspedal nehmen als von den Finanzmärkten momentan unterstellt.