Im Bann von Pandemie und Politik
Von Stefan Reccius, Frankfurt
In den Schwellenländer-Abteilungen von Banken und Bonitätswächtern mehren sich in diesen Wochen die Sorgenfalten, wenn es um Lateinamerika geht. Epidemiologisch bessert sich die Lage mit dem Blick auf das Coronavirus allenfalls schleppend oder verschärft sich mancherorts gar, weil die pandemiemüden Bevölkerungen und gebeutelte Unternehmen auf die Rückkehr zur Normalität dringen und die Impfkampagnen bis auf wenige Ausnahmen im Schneckentempo vorankommen. Wirtschaftlich läuft die Erholung ähnlich schleppend und uneinheitlich an, nachdem die Coronakrise dem Subkontinent härter zugesetzt hat als anderen Regionen (siehe Grafik). Und politisch macht sich in einem richtungsweisenden Superwahljahr Proteststimmung breit, die zwar je nach Land und Region unterschiedlichen politischen Strömungen Auftrieb verleiht, aber einem übergreifenden Leitmotiv folgt: Weg mit dem politischen Establishment.
Längst sorgen nicht mehr nur die üblichen Verdächtigen wie das chronisch überschuldete Argentinien, wo im November gewählt wird, für Nervosität. Einen ersten Vorgeschmack, was den Finanzmärkten möglicherweise auf breiter Front bevorsteht, liefert Kolumbien. Das Land wird von landesweiten, gewalttätigen Protesten erschüttert, seit die Regierung höhere Steuern zum Abbau der Schulden angekündigt hat. Die Ratingagentur S&P hat Kolumbiens Staatsanleihen daraufhin auf Ramsch herabgestuft.
Die Unruhen in Kolumbien sind nach Auffassung der Analysten von S&P Global Ratings Vorbeben, deren tiefer liegende Ursachen in den nächsten Jahren die gesamte Region erschüttern könnten. So habe die Pandemie Niedriglohnbezieher besonders hart getroffen und diese dürften angesichts der schleppenden Erholung gepaart mit einer restriktiveren Haushaltspolitik zum Abbau der Schulden weiter zurückfallen. Die Ungleichheit werde absehbar zunehmen – und mit ihr die Gefahr sozialer und politischer Unruhen, mahnt S&P-Lateinamerika-Experte Elijah Oliveros-Rosen.
Selbst kleinere Andenstaaten, die von Anlegern, Analysten und Bonitätswächtern lange als Horte der Stabilität geschätzt wurden, geraten in den Sog der Umwälzungen: In Peru haben Umfragen die Märkte aufgeschreckt, wonach sich vor der Stichwahl um das Präsidentenamt am 6. Juni ein Linksruck abzeichnet. Demnach kann sich Gewerkschaftsführer Pedro Castillo gute Chancen auf den Sieg gegen seine wirtschaftsnahe und investorenfreundliche Gegenkandidatin Keiko Fujimori ausrechnen. Eine politische Gezeitenwende hat auch in Chile eingesetzt, wo die sozial motivierten Massenproteste aus dem Oktober 2019 nachwirken: Bei den Wahlen in Kommunen, Regionen und zur verfassungsgebenden Versammlung Mitte Mai – in denen Beobachter ein Zeugnis der demokratischen Reife Chiles sahen – straften die Wähler die regierenden Konservativen ab. Jüngstes Alarmsignal für die Märkte: Der Kommunist Daniel Jadue führt neuerdings in Umfragen für die Präsidentschaftswahl im November.
Die Pandemie wirkt wie ein Katalysator politisch-gesellschaftlicher Spannungen, die sich nun an den Wahlurnen und auf den Straßen entladen. Angesichts dieser explosiven Gemengelage kann es nicht verwundern, dass Anleihen und Währungen quer über Lateinamerika unter Druck geraten sind – und dies auf unbestimmte Zeit bleiben dürften.