Inflation knackt 10-Prozent-Marke
ms Frankfurt
Die Inflation in Deutschland hat im September erneut alle Erwartungen übertroffen und mit einem kräftigen Satz die 10-Prozent-Marke geknackt – womit sie erstmals seit 70 Jahren wieder zweistellig ist. Für die nächsten Monate zeichnen sich noch höhere Werte ab, und zugleich breitet sich die Teuerungswelle immer mehr in der Wirtschaft aus – was das Risiko erhöht, dass sich die Inflation zunehmend verfestigt. Damit steigt der Druck auf die Politik, für Entlastung bei Privathaushalten und Unternehmen zu sorgen, und auf die Europäische Zentralbank (EZB) zu weiteren Zinserhöhungen.
Angetrieben vor allem von steigenden Energiepreisen sprang die deutsche Inflationsrate laut EU-harmonisierter Berechnung (HVPI) im September von zuvor 8,8% auf 10,9%, wie das Statistische Bundesamt am Donnerstag in einer ersten Schätzung mitteilte. In nationaler Rechnung (VPI) ging es von 7,9% auf 10,0% hoch. Das ist der höchste Wert seit dem Jahr 1951. Beobachter hatten zwar mit einer weiter anziehenden Teuerung gerechnet, aber nicht in dem Ausmaß. „Ein weiterer Inflationsschocker aus Deutschland“, kommentierte Carsten Brzeski, Global Head of Macro der ING.
Eine höhere Inflationsrate war vor allem wegen des Wegfalls staatlicher Maßnahmen wie des 9-Euro-Tickets und des Tankrabatts erwartet worden. Der überraschend starke Anstieg signalisiert aber, dass sehr viel mehr Preisdruck in der Pipeline ist als gedacht. Haupttreiber waren abermals die Energiepreise, aber auch die Nahrungsmittelpreise legten erneut kräftig zu. Der Ukraine-Krieg treibt die Preise vor allem für Energie, aber auch von Rohstoffen und Lebensmitteln enorm in die Höhe. Energie kostete im September binnen Jahresfrist 43,9% mehr, während sich Nahrungsmittel um 18,7% verteuerten – das sind jeweils weitere Steigerungen zum Vormonat
Nicht zuletzt wegen der Zuspitzung des Ukraine-Kriegs mit der Teilmobilmachung Russlands und der sich verschärfenden Gaskrise wegen der Lecks in der Nord-Stream-Pipeline zeichnen sich auch für die nächsten Monate weiter hohe oder sogar steigende Inflationsraten ab. Dazu dürfte auch die Erhöhung des Mindestlohns zum 1. Oktober beitragen. ING-Ökonom Brzeski etwa prognostiziert jetzt, dass die deutsche Inflation in den nächsten Monaten auf ein Hoch von rund 13% klettern könnte. Zugleich erfasst die Inflation immer mehr Güter und Sektoren und breitet sich damit immer weiter in der Wirtschaft aus. Die führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute prognostizierten am Donnerstag, dass die Inflation 2022 und 2023 im Schnitt bei 8,4% und 8,8 % liegen wird (siehe auch Text auf Seite 8).
Löhne im Fokus
Mit der Aussicht auf eine anhaltend hohe und sich ausbreitende Inflation wächst auch die Gefahr, dass es zu Zweitrundeneffekten kommt – insbesondere zu deutlich anziehenden Inflationserwartungen und einer Lohn-Preis-Spirale. Dabei schaukeln sich Preise und Löhne gegenseitig immer weiter hoch, wodurch sich die hohe Teuerung verfestigt. Anders als etwa in den USA gibt es in Deutschland bislang keinen allzu starken Lohndruck. Zuletzt haben die Gewerkschaften aber bereits deutliche Lohnerhöhungen gefordert. Deutschland steht im Herbst vor einer heißen Tarifrunde.
Wegen der hartnäckig hohen Teuerung wächst der Druck auf die Bundesregierung, den Preisauftrieb abzumildern und für Entlastung zu sorgen. „Für den weiteren Verlauf der Inflation in den nächsten Monaten ist es von entscheidender Bedeutung, inwieweit die Regierung sich dazu entscheidet, den Preisanstieg für Gas und Strom auf der Verbraucherebene abzudämpfen“, sagte Michael Heise, Chefvolkswirt von HQ Trust. „Hier ist dringender Handlungsbedarf gegeben. Ohne staatliche Maßnahmen wird die Weitergabe höherer Beschaffungskosten bei Gas und Strom anhaltenden Aufwärtsdruck bei den Verbraucherpreisen verursachen.“
Die Bundesregierung plant zur Abfederung der sprunghaft gestiegenen Energiekosten einen Abwehrschirm für Verbraucher und Unternehmen im Umfang von rund 200 Mrd. Euro, wie die Ampel-Koalitionäre am Donnerstag mitteilten (siehe Text auf Seite 6). Konkret geplant ist neben einer Strompreisbremse nun auch eine Gaspreisbremse. Das ist aber durchaus umstritten – auch wegen möglicher negativer Effekte auf die Inflationsentwicklung.
Die EZB wiederum gerät mit der anhaltend hohen Teuerung weiter unter Zugzwang. Nach langem Zögern hatte sie erst im Juli mit einer Anhebung um 50 Basispunkte die Zinswende eingeleitet und im September mit 75 Punkten nachgelegt – ein Rekordschritt. Sie hat weitere Zinsschritte avisiert. Tempo und Umfang sind aber unklar und teils umstritten (siehe Text auf dieser Seite).