IM BLICKFELD

Italien auf der Suche nach Stabilität

Von Thesy Kness-Bastaroli, Mailand Börsen-Zeitung, 27.10.2016 Italien ist derzeit auf der Suche nach politischer, wirtschaftlicher und sozioökonomischer Stabilität. In allen drei Bereichen ist das Klima übermäßig erhitzt. Die Volksabstimmung über...

Italien auf der Suche nach Stabilität

Von Thesy Kness-Bastaroli,MailandItalien ist derzeit auf der Suche nach politischer, wirtschaftlicher und sozioökonomischer Stabilität. In allen drei Bereichen ist das Klima übermäßig erhitzt. Die Volksabstimmung über die Verfassungsreform von Anfang Dezember ist nicht so sehr ein Votum für oder gegen die Änderung der vor 70 Jahren entstandenen Verfassung. Die untereinander uneinige Opposition rebelliert gegen die Reform, die sie zum Teil selbst gewollt und im Parlament befürwortet hatte. Zur Opposition zählen die Mitte-rechts-Partei Forza Italia von Silvio Berlusconi, die einst separatistische Lega Nord und die Rechtspartei Fratelli Italia. Mit von der Partie ist nicht nur die Protestbewegung M5S des Komikers Beppe Grillo, sondern auch der radikale Flügel der Regierungspartei. Einzig der Industriellenverband Confindustria unterstützt die Regierung derzeit bei ihren Reformbemühungen. Wahlausgang unsicherDie jüngsten Meinungsumfragen sehen die Reformgegner weiter vorn. Trotzdem scheint der Ausgang der Volksabstimmung unsicher, da sich noch rund ein Drittel der potenziellen Wähler unentschlossen zeigt. Abgesehen von politischen und ideologischen Gegnern haben sich auch all jene Politiker und ehemalige Regierungschefs gegen die Verfassungsreform ausgesprochen, die durch den politischen Aufstieg von Regierungschef Matteo Renzi in den Schatten gestellt wurden. Ob es sich nun um Ex-Regierungschef Massimo d’Alema oder den einstigen PD-Parteisekretär Pierluigi Bersani, um Ex-Regierungschef Mario Monti, Ex-Premier Lamberto Dini oder um den ehemaligen Industrieminister und Parteisekretär der Christdemokraten, den 88-jährigen Ciriaco De Mita handelt: “Die Partei der Beleidigten” nennt Stefano Folli, Chefkommentator der Tageszeitung “La Repubblica”, den Widerstand der einstigen Machtinhaber gegen die Reform.Zweifellos trägt das von der Regierung Mitte Oktober präsentierte Stabilitätsgesetz nicht zur Stabilität bei. Der Haushaltsentwurf konzentriert sich vorrangig auf Wahlgeschenke. Das Haushaltsdefizit wird 2017 statt der geplanten 1,8 % auf 2,3 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zunehmen. Von einem Abbau des horrend hohen Schuldenbergs im Ausmaß von 133 % des BIP ist nicht die Rede. Auch nicht davon, dass der für 2016 versprochene Schuldenabbau nicht erreicht wird, sondern im Gegenteil: ansteigt. Eine Zeitbombe für Italien.Für die Erhöhung der Mindestpensionen und die Erleichterung eines vorzeitigen Pensionsantritts sind im neuen Budgetgesetz 7 Mrd. Euro vorgesehen. Außerdem sollen die Ausgaben für das Gesundheitswesen um 2 Mrd. Euro, jene für die Bildung und die Unterstützung von Familienunternehmen um je 1 Mrd. Euro zunehmen. Des Weiteren will der Staat Jobs für 10 000 neue Beamte, Ärzte, Polizisten und Krankenpfleger ausschreiben. Auch Steuersünder kommen auf ihre Rechnung. 2017 soll es für notorische Steuersünder nochmals die Möglichkeit einer straffreien Selbstanzeige geben. Außerdem wird die im ganzen Land unbeliebte staatliche Steuerinkasso-Agentur Equitalia abgeschafft – und mit ihr auch gleich die Strafzinsen für säumige Steuerschuldner. Sparmaßnahmen sind im Budget 2017 verpönt. In ihrer Gesamtheit kosten Renzis Wahlgeschenke in Form von Mehrausgaben und Mindereinnahmen 27 Mrd. Euro.Undenkbar, dass Brüssel den Haushaltsentwurf in dieser Form genehmigen wird und kann. In einem ersten Brief von Kommissionsvizepräsident Valdis Dombrovskis und Kommissar Pierre Moscovici werden Klarstellungen zum Haushaltsplan gefordert. Die von Renzi reklamierten außergewöhnlichen Umstände, die Mehrkosten für Flüchtlinge und den Wiederaufbau nach den Erdbeben im Sommer verursachten, könnten kein Freibrief für jahrzehntelange staatliche Baumaßnahmen sein, heißt es in dem Brief. Erwähnt wird auch, dass Italien wie kein anderes Land von den Flexibilitätsregeln schon profitiert hat. Renzi droht inzwischen, jeden EU-Haushalt zu blockieren, sollte sich Osteuropa nicht konkret an der Umverteilung von Flüchtlingen beteiligen. Eine Entscheidung der EU-Kommission zu Roms Budgetgesetz ist erst nach der Volksabstimmung zu erwarten.Klar ist, dass die bevorstehende Volksabstimmung kein Alibi für Wahlgeschenke sein kann. Und auch nicht dafür, dass Italien derzeit stillsteht. So wurden etwa 21 Gesetze im Parlament auf Eis gelegt, weil sie die Abstimmung negativ beeinflussen könnten. Stabilität gibt es weder auf politischer noch auf wirtschaftlicher oder sozioökonomischer Ebene. Denn die Protestkundgebungen nehmen zu. Nach monatelangem Stillhalten haben die Gewerkschaften am Freitag erstmals wieder zum Generalstreik aufgerufen. Anlässlich des “No Renzi”-Tags am Wochenende riefen die Demonstranten dazu auf, bei dem Referendum mit Nein zu stimmen. “Schicksalstag für Europa”In den Medien wird der 4. Dezember, der Tag der Volksabstimmung über die Verfassungsänderung, längst zum Schicksalstag für ganz Europa stilisiert. Sie zeichnen ein Horrorszenario, falls der Regierungschef stürzen sollte. Vor dem Hintergrund der Rekordverschuldung, der Bankenkrise mit ihren 350 Mrd. Euro notleidender Kredite ist ein Schock auf den Finanzmärkten nicht auszuschließen.Es ist fraglich, ob Regierungschef Renzi ein Nein am 4. Dezember politisch überleben würde. Zweifellos würde die Regierung geschwächt. Doch Staatspräsident Sergio Mattarella wird jeglichem Horrorszenario zuvorkommen. Er ließ bereits wissen, dass er Neuwahlen vermeiden will. Eine Regierungsumbildung liegt in der Luft.