Keine Angst vor der kalten Progression
Als die FDP nach der Bundestagswahl nach dem Finanzministerium griff, war ihr wohl bewusst, welche Gestaltungsmacht dort liegt. Christian Lindner (FDP) ist als Minister gewillt, sie auch zu nutzen. Mit einem konkreten Entwurf zum Ausgleich der kalten Progression in der Einkommensteuer bringt er die Koalitionspartner der Ampel in Zugzwang, noch bevor er im Herbst turnusgemäß belastbare Daten in den Berichten zu Existenzminimum und Steuerprogression vorlegt. Die Zeit drängt. Streit in der Ampel ist programmiert. SPD und Grüne betrachten die Reserve im Etat 2023 von knapp 10 Mrd. Euro für mögliche Steuermindereinnahmen als Verfügungsmasse, um in diesen schwierigen Zeiten mit Inflation und explodierenden Energiepreisen bestimmte Gruppen zu entlasten. Die Mittel sind knapp, denn die Schuldenbremse soll wieder ziehen.
Lindner will hingegen fast alle Steuerzahler von den fiskalischen Folgen der Preissteigerungen befreien – von der kalten Progression. Lohnerhöhungen zum Inflationsausgleich nutzen bei einem progressiven Steuertarif nämlich nicht allein dem Arbeitnehmer, sondern vor allem dem Fiskus. Trotz Erhöhung bleibt weniger Geld in der Lohntüte, weil der Salär in einer höheren Progressionsstufe überproportional stark versteuert werden muss. Der Staat nimmt so mehr Steuern ein. Diese heimliche Steuererhöhung will Lindner zurückgeben. Die Koalitionspartner halten dagegen.
Die Ampel vermischt in der Debatte zwei Themen: Steuerpolitik nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip und Sozialpolitik. Dass Topverdiener stärker entlastet werden als Geringverdiener, wie es SPD und Grüne kritisieren, liegt bei einer Anpassung des Steuertarifs in der Natur der Sache. Sie zahlen auch viel mehr und der Fiskus greift dort systembedingt stärker zu.
Den Ausgleich der kalten Progression ausfallen zu lassen verstieße beim Existenzminimum gegen die Verfassung und höchstrichterliche Rechtsprechung. Bliebe die Anpassung des Einkommens an den Spitzensteuersatz aus, wäre dies eine Abkehr von geübter Praxis und ungerecht. Denn wenn ein progressiver Steuertarif gerecht ist, dann ist es auch umgekehrt eine Korrektur innerhalb des Systems. Sozialpolitisch motivierte Unterstützung für schwache Gruppen ist in diesen Zeiten auch berechtigt. Ökonomen plädieren sogar für diese gezielten Hilfen. Dafür müssen aber nicht zwangsläufig heimliche Steuererhöhungen herhalten. Der Staat kann auch Ausgaben umschichten. Die Sozialpolitiker müssen nur etwas gründlicher suchen.