Konzertierte Aktion gegen Inflation
ms/wf Frankfurt/Berlin
Angesichts der stärksten Inflation in Deutschland seit Jahrzehnten hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zu einer konzertierten Aktion gegen die Teuerung aufgerufen. Die Bundesregierung wolle sich mit Gewerkschaften und Arbeitgebern an einen Tisch setzen, um über gemeinsame Maßnahmen gegen die hohe Inflation zu beraten, sagte Scholz am Mittwoch in der Generaldebatte im Bundestag. Unterdessen spitzt sich in der Europäischen Zentralbank (EZB) der Streit über den weiteren geldpolitischen Kurs zu. Österreichs Notenbankchef Robert Holzmann plädierte am Mittwoch erneut für eine erste Zinserhöhung um gleich 50 Basispunkte im Juli – was viele andere Euro-Notenbanker ablehnen.
Die starken Preissteigerungen in Deutschland und Euroland stellen immer mehr Menschen vor große, teils existenzielle Probleme. Deshalb wächst der Druck auf die Politik, für mehr Entlastung zu sorgen, und auf die EZB, die im Vergleich zu anderen Notenbanken bislang sehr viel zaghafter reagiert. Im Mai hat die Inflation erneut alle Erwartungen übertroffen. In Deutschland sprang sie nach EU-harmonisierter Berechnung (HVPI) von 7,8% auf 8,7%. In nationaler Rechnung (VPI) ging es von 7,4% auf 7,9% nach oben – den höchsten Stand seit der Ölkrise im Winter 1973/1974. In Euroland machte sie erneut einen überraschend kräftigen Satz von 7,4% auf 8,1% – ein absoluter Rekordwert.
Die besondere Sorge gilt nun einer Lohn-Preis-Spirale, dass also wegen der Inflation auch die Löhne kräftig steigen und sich am Ende Löhne und Preise gegenseitig hochschaukeln – und sich die Teuerung damit verfestigt. In Deutschland hatte die Empfehlung der Tarifkommission der IG Metall für eine Forderung nach 8,2% mehr Lohn in der nächsten Tarifrunde solche Sorgen befeuert.
Scholz sagte nun im Bundestag: „Wir brauchen eine gezielte Kraftanstrengung in einer ganz außergewöhnlichen Situation. Wir wollen eine konzertierte Aktion gegen den Preisdruck.“ Der Begriff der „konzertierten Aktion“ ist aus Zeiten der ersten großen Koalition bekannt. Angesichts der ersten Wirtschaftskrise der Bundesrepublik rief Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) 1967 Vertreter von Regierung, Bundesbank, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften an einen Tisch.
Auch jetzt will Scholz Gewerkschaften und Arbeitgeber zusammenbringen. Dabei gehe es nicht um Lohntarifverhandlungen. Aber, so Scholz: „Hier muss erneut zusammengestanden werden und herausgefunden werden, wie wollen wir mit dieser Preisentwicklung umgehen?“ Er verwies auf die Chemische Industrie, die mit einer einmaligen Sonderzahlung für die Beschäftigten einen „interessanten Weg“ gewählt habe. Die Arbeitgeber begrüßten die Ankündigung von Scholz. „Wir Arbeitgeber sind uns unserer Verantwortung bewusst“, erklärte Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger.
Am Mittwoch starteten in Deutschland weitere Entlastungsmaßnahmen gegen die hohen Energiepreise – darunter der Tankrabatt und das 9-Euro-Ticket für den Nahverkehr. Die Förderbank KfW erklärte dazu in einem neuen Researchpapier: „Die beschlossenen Maßnahmen dürften bereits jetzt die Kaufkraftverluste der Bürgerinnen und Bürger lediglich teilweise auffangen können.“ Das gerade von der EU beschlossene Teilembargo gegen russische Ölimporte sowie der Plan der EU-Kommission, die russischen Gasimporte bis Ende des Jahres drastisch zu reduzieren, dürften die Preissteigerungen bei fossiler Energie voraussichtlich weiter befeuern. „Spätestens dann werden neue Antworten auf den Energiepreisschock gefragt sein“, so die KfW.
Die meisten Menschen in Deutschland sind einer Umfrage zufolge unzufrieden mit den Maßnahmen der Bundesregierung gegen die Inflation und rechnen mit weiter steigenden Preisen. 38% der Bundesbürger rechnen demnach derzeit damit, dass die Verbraucherpreise hoch bleiben werden. 56% gehen davon aus, dass sie noch weiter steigen werden, wie aus einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa für das RTL/ntv-„Trendbarometer“ hervorgeht.
Unterdessen plädierte am Mittwoch EZB-Ratsmitglied Holzmann dafür, dass die EZB bei der avisierten ersten Zinserhöhung im Juli den Leitzins gleich um 50 statt nur um 25 Basispunkte anhebt. Ohne „entschlossenes Handeln“ drohten die Inflationserwartungen die Verankerung zu verlieren, sagte Holzmann zu Bloomberg. „Ein klares Zinssignal würde auch den Euro-Kurs stützen. Der schwache Euro ist an der Inflationsfront nicht hilfreich.“ Ein schwacher Euro verteuert die Importe.
Erst am Montag hatte EZB-Chefvolkswirt Philip Lane Spekulationen auf Zinsschritte um 50 Basispunkte im Sommer gedämpft. Auch EZB-Chefin Christine Lagarde tendiert offenbar zu kleinen Schritten. Die Deutsche Bank erwartet aber laut einer am Mittwoch aktualisierten Prognose, dass die EZB ihre Leitzinsen im Juli oder September um 50 Punkte anhebt. Derzeit liegt der Leitzins bei 0%, der Einlagensatz bei −0,5%.