Kopfloser Hahn
Game over? Wäre Politik ein Videospiel, müsste man sich fragen, wie viele Leben der britische Premierminister Boris Johnson noch vor sich hat. Noch klammert er sich an die Macht. Schneller als erwartet zauberte er einen glaubwürdigen Nachfolger für Schatzkanzler Rishi Sunak aus dem Hut, der sein Amt kurz nach Gesundheitsminister Sajid Javid hingeschmissen hatte. Befürchtungen, dass noch weitere profilierte Politiker zurücktreten könnten, bewahrheiteten sich bislang nicht. Am Tag nach dem großen Knall nahmen lediglich nachrangige Chargen ihren Abschied. Der prominente Brexiteer Jacob Rees-Mogg bemühte die Geschichte: Weder Lord Salisbury noch Harold Macmillan seien als Premierminister durch den Verlust ihrer Schatzkanzler zu Fall gebracht worden.
Tatsächlich ist es für Johnsons Gegner so gut wie unmöglich, ihn loszuwerden. Ihre Hoffnung, das parteiinterne 1922-Komitee werde die Regeln für Misstrauensvoten dahingehend ändern, dass noch vor der Sommerpause ein weiteres abgehalten werden kann, dürfte sich nicht bewahrheiten. Denn für noch mehr Instabilität wird es wohl keine Mehrheit unter den Abgeordneten der Regierungspartei geben, auch wenn sie sich noch so sehr über die mangelnde Ernsthaftigkeit Johnsons und dessen taktisches Verhältnis zur Wahrheit empören. Johnson müsste schon freiwillig zurücktreten. Aber das wird nicht passieren. Denn er will nicht als schlechtester Premierminister aller Zeiten in die Geschichte eingehen.
Augen zu und durch also? Johnson wirkt nicht ganz so zombiehaft wie seine Vorgängerin Theresa May gegen Ende ihrer Amtszeit. Er müsste sich aber neu erfinden, um die Skandale der ersten Hälfte seiner Amtszeit vergessen zu machen. Voraussetzung dafür wäre die Einsicht, etwas falsch gemacht zu haben. Wahrscheinlicher ist, dass er und sein Gefolge planlos weiterwursteln, solange es geht. Die Tories haben eine satte Mehrheit im Unterhaus, mit der sie durchregieren könnten.
Man kann Johnson deshalb schlecht als lahme Ente bezeichnen. Er ähnelt eher einem kopflosen Hahn, der sich von Augenblick zu Augenblick rettet. Viele treue Unterstützer haben ihm bereits den Rücken gekehrt, darunter vor allem Brexit-Befürworter. Die konservativen Zeitungen wenden sich nun gegen ihn. Es ist ein Leben auf Messers Schneide, bei dem ständig neue Rückschläge drohen. Doch kann es noch lange gehen. Miracle Mike, ein Hahn aus Colorado, lebte noch 18 Monate weiter, nachdem sein Kopf abgetrennt wurde.