Im Interview:Christian Lips

„Eine kleine Zinssenkung der EZB im September erscheint angemessen“

Christian Lips, Chefökonom der Nord/LB, hält den Wachstumsausblick für die Eurozone für gedämpft. Nicht nur deswegen befürwortet er im Interview der Börsen-Zeitung eine Zinssenkung der EZB im September.

„Eine kleine Zinssenkung der EZB im September erscheint angemessen“

Herr Lips, die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die EZB im September die Zinsen senkt. Ist das nach aktuellem Stand der Dinge für Sie der richtige Schritt?

Der jüngste Stimmungseinbruch in Umfragen und an den Finanzmärkten spricht für eine weitere Zinssenkung im September. Vor der Zinsentscheidung werden jedoch noch eine ganze Reihe weiterer Konjunkturindikatoren, die Inflationsdaten für den Monat August und Daten zur Entwicklung der Lohndynamik im zweiten Quartal veröffentlicht. Gerade den beiden letzten Datenmeldungen kommt sicher ein hohes Gewicht bei der Diskussion und Entscheidungsfindung auf der nächsten Ratssitzung zu. Da die Geldpolitik derzeit noch sehr restriktiv ist, erscheint eine kleine Zinssenkung im September angemessen und wird die Rückkehr zum Inflationsziel der EZB im kommenden Jahr auch nicht gefährden.

Die Lohndynamik wird 2025 wieder geringer ausfallen.

Christian Lips

Erwarten Sie einen deutlichen Rückgang des Lohnwachstums in der Eurozone in den kommenden Monaten und vor allem in 2025 und 2026? Oder könnte der demografische Wandel und dessen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt dazu führen, dass sich das Lohnwachstum auf einem hohen Niveau einpendelt?

Die Lohndynamik im ersten Quartal war auch wegen hoher Einmalzahlungen überraschend hoch. In den diesjährigen Tarifrunden dominiert klar das Motiv des Ausgleichs für die zurückliegende Hochinflationsphase, weshalb wir zumindest in diesem Jahr noch keine starke Abnahme der Lohndynamik erwarten. Dies sehen die Unternehmen derzeit offenbar ähnlich. Die gute Botschaft ist, dass die jüngsten Abschlüsse vor allem als Kompensation für vergangene Inflation zu sehen sind und nicht etwa mit hohen Inflationserwartungen begründet werden. Vor diesem Hintergrund wird die Lohndynamik 2025 wieder geringer ausfallen. Richtig ist aber auch, dass sich die Kräfteverhältnisse am Arbeitsmarkt durch den strukturellen Fachkräftemangel nachhaltig zugunsten der Arbeitnehmerseite verschoben haben dürften.

Was ist aus Ihrer Sicht derzeit das größte Aufwärts- bzw. Abwärtsrisiko für die Inflation?

Aufwärtsrisiken für die Inflation können sich vor allem durch neue exogene Schocks ergeben. Die Angriffe der Huthis im Roten Meer haben bereits jetzt zu einem Anstieg von Lieferfristen und
-kosten geführt und die Eskalationsgefahr im Nahen und Mittleren Osten ist aktuell sehr hoch. Stärkere Störungen globaler Lieferketten oder auch neue Preisschübe bei den Energiepreisen könnten daher auch hier eine neue Inflationsrunde einläuten. Zudem bleibt das Lohn- und Gewinnwachstum im Fokus der Währungshüter. Von konjunktureller Seite sehen wir derzeit aber eher Abwärtsrisiken.

Zuletzt ist eine Reihe an Konjunkturdaten eher enttäuschend ausgefallen, allen voran in Deutschland. Ist die Konjunkturprognose der EZB für den Euroraum zu optimistisch? Und wenn ja, was folgt daraus für die weitere Geldpolitik der Notenbank?

Sorgen bereitet die Entwicklung der Stimmung in den Unternehmen, die sich angesichts der anhaltend hohen wirtschaftspolitischen Unsicherheit zuletzt wieder deutlich eingetrübt hat. Zwar hinkt Deutschland im europäischen Vergleich hinterher, allerdings ist auch der Wachstumsausblick für die Eurozone gedämpft. Das Wirtschaftswachstum erwarten wir 2024 und 2025 etwas niedriger als die EZB, vor allem sehen wir keine konjunkturbedingten Aufwärtsrisiken für die Inflation. Damit verschieben sich die Risiken gemessen an den EZB-Projektionen aus dem Juni wieder, was für eine Fortsetzung der geldpolitischen Lockerung spricht.

Für wie restriktiv halten Sie im Moment die Geldpolitik der EZB?

Nach dem deutlichen Rückgang der Inflation und der Inflationserwartungen ist der Realzins stark gestiegen und inzwischen klar positiv. Zudem sind die Finanzierungsbedingungen straffer und die monetäre Dynamik aktuell noch sehr schwach. Der EZB ist daher zuzustimmen, dass die Ausrichtung der Geldpolitik aktuell restriktiv ist. Hieran hat auch die erste leichte Zinssenkung im Juni nichts geändert. Besonders zinssensitive Sektoren wie die Bauwirtschaft spüren dies, allerdings belasten die restriktiven Finanzierungskonditionen auch immer mehr die Investitionsbereitschaft in der Gesamtwirtschaft. Beim antizipierten Tempo der Zinssenkungen wird die Geldpolitik der EZB bis ins Jahr 2025 hinein restriktiv wirken. Wegen der üblichen Wirkungsverzögerungen geldpolitischer Maßnahmen sollte die Bedeutung der jüngsten Signale für eine konjunkturelle Abkühlung nicht unterschätzt werden.

Aufgrund der anhaltenden geopolitischen Konfrontation bleibt zudem die Gefahr von exogenen Preisschocks hoch.

Christian Lips

Die EZB beginnt in diesem Sommer mit ihrer Strategieüberprüfung. Welche Anpassungen würden Sie sich wünschen?

Vor allem sollten die Erkenntnisse aus der zurückliegenden Hochinflationsphase die Überlegungen im Rahmen der Strategieüberprüfung beherrschen. Die letzte Überprüfung stand noch stärker unter dem Eindruck der in der vergangenen Dekade vorherrschenden Deflationsrisiken. Das Inflationsumfeld hat sich jedoch angesichts von Deglobalisierungstendenzen, der demographischen Entwicklung und der notwendigen Investitionsoffensive zur Transformation der Wirtschaft nachhaltig verändert. Aufgrund der anhaltenden geopolitischen Konfrontation bleibt zudem die Gefahr von exogenen Preisschocks hoch. In diesem Umfeld ist eine größere Vorsicht beim Einsatz unkonventioneller Maßnahmen angezeigt. Vor allem aber sollte weder am Inflationsziel noch an der klaren Zielhierarchie gerüttelt werden.

Das Interview führte Martin Pirkl.


Die Antworten der anderen Befragten:

Silke Tober, Leiterin des Referats Makroökonomische Grundlagenforschung und Geldpolitik des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung: „Die Risiken für die Finanzmarktstabilität sind hoch“

Alexander Krüger, Chefökonom der Hauck Aufhäuser Lampe Privatbank: „Die Inflationsrisiken lauern von allen Seiten“

Ingo Mainert, CIO Multi Asset Europe bei Allianz Global Investors (AGI): „Man kann wohl von einer Lohn-Dienstleistungspreis-Spirale sprechen“

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