„Man kann wohl von einer Lohn-Dienstleistungspreis-Spirale sprechen“
Herr Mainert, die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die EZB im September die Zinsen senkt. Ist das nach aktuellem Stand der Dinge für Sie der richtige Schritt?
In der Tat scheint es aus heutiger Sicht sehr wahrscheinlich, dass die EZB im September die Leitzinsen erneut um 25 Basispunkte senken wird. Die Märkte preisen diesen Schritt auch bereits weitgehend ein. Normativ betrachtet – also mit Blick auf das Notenbankmandat, nachhaltig Preisniveaustabilität zu erreichen – ist eine derartige Maßnahme allerdings schwierig zu begründen. Schon der Schritt im Juni war, im Nachgang betrachtet, wohl verfrüht, steht er doch im Kontrast zu den seinerzeit neu vorgelegten Notenbank-eigenen Projektionen. Aktuell erwartet die EZB, dass die Inflation erst im Verlauf des zweiten Halbjahres 2025 im Bereich der Zielrate von 2% liegen wird. Die Kernrate unterschreitet in den Jahresprojektionen der Notenbank nicht einmal (mehr) 2026 diese Marke. Darüber hinaus ist zudem zu beachten, dass in der Wahrnehmung der privaten Haushalte neben der Änderungsrate der Preise – der Inflation also – zunehmend auch das in den letzten Jahren in der Breite deutlich gestiegene Preisniveau eine Rolle spielt. Ein derartiges mulmiges Gefühl wirkt bei der Inflationsbekämpfung wie Mehltau.
Erwarten Sie einen deutlichen Rückgang des Lohnwachstums in der Eurozone in den kommenden Monaten und vor allem in 2025 und 2026? Oder könnte der demografische Wandel und dessen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt dazu führen, dass sich das Lohnwachstum auf einem hohen Niveau einpendelt?
Ein Rückgang des Lohnwachstums ist derzeit schwierig ableitbar. Im Gegenteil, wir beobachten eher eine gewisse Sperrigkeit beim Anstieg von Löhnen und Dienstleistungspreisen – man kann hier wohl von einer Lohn-Dienstleistungspreis-Spirale sprechen. Hinzu kommt, dass der Arbeitsmarkt aus demografischen Gründen in vielen Regionen mittlerweile eher zu einem Verkäufermarkt geworden ist, die Verhandlungsmacht also auf Seiten der Arbeitnehmer liegt. Und schließlich sollten Lohnindexierungen in einigen europäischen Ländern nicht vergessen werden. In der Summe gibt es zumindest in Teilen so etwas wie eine europäische Scala Mobile (Anm. der Redaktion: Scala Mobile war eine 1975 in Italien vereinbarte Klausel, nach der die Löhne automatisch der Inflation folgen. 1992 wurde sie wieder abgeschafft). All dies führt dazu, dass von der demografischen Entwicklung in Europa strukturell Inflationsdruck ausgehen dürfte. Und – nicht zu vergessen: Neben dem D wie Demografie gibt es weitere Ds: Dekarbonisierung und De-Globalisierung wirken strukturell genauso stagflatorisch wie Debt, überhöhte Schuldensockel, und Defense, mehr Verteidigungsausgaben.
Ingo MainertDie jüngsten Ifo-Zahlen zur Kapazitätsauslastung in der deutschen Industrie sind alarmierend.
Was ist aus Ihrer Sicht derzeit das größte Aufwärts- bzw. Abwärtsrisiko für die Inflation?
Aufwärtsrisiken resultieren aktuell vor allem aus neuen Lieferkettenproblematiken, die sich etwa in den gegenwärtig sehr hohen Frachtraten widerspiegeln. Abwärtsrisiken für die Inflation bergen die schwächelnde europäische Konjunktur, die Abkühlung in den USA und China sowie die Immobilienmärkte disinflationäres Potenzial.
Zuletzt ist eine Reihe an Konjunkturdaten eher enttäuschend ausgefallen, allen voran in Deutschland. Ist die Konjunkturprognose der EZB für den Euroraum zu optimistisch? Und wenn ja, was folgt daraus für die weitere Geldpolitik der Notenbank?
In der Tat könnten sich die Konjunkturprojektionen als zu optimistisch erweisen, weil Deutschland das Wirtschaftswachstum bremst. Die jüngsten Ifo-Zahlen zur Kapazitätsauslastung in der deutschen Industrie sind alarmierend: Diese lag gerade einmal bei rund 77%! Bei aller Tertiärisierung, also dem Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, ist nicht zu vergessen: Die Konjunkturzyklik wird weiterhin in der Industrie gemacht! Sollte die EZB bei der Vorlage der neuen Projektionen im September die Wachstumseinschätzung nach unten nehmen, wovon wir ausgehen, dürfte dieses trotz der hartnäckig über dem Ziel liegenden Inflation ein starkes Argument für die Notenbank sein, die Leitzinsen im selben Monat zu senken.
Ingo MainertIm deutlichen Unterschied zu den USA sind die Finanzkonditionen in Europa negativ.
Für wie restriktiv halten Sie im Moment die Geldpolitik der EZB?
Schaut man allein auf das Realzinsniveau, also Nominalzinsen abzüglich der Inflation, so wirkt die EZB-Geldpolitik derzeit nur leicht restriktiv: Ein realer Einlagenzinssatz von rund 1% ist sicherlich nicht als stark bremsend zu interpretieren. Weitet man allerdings den Blickwinkel aus, so zeigt nicht nur der ECB Bank Lending Survey (BLS) eine Verschärfung auf der aggregierten Kreditvergabeseite an, sondern sind auch die Financial Conditions Indices (FCI) restriktiv. Im deutlichen Unterschied zu den USA sind die Finanzkonditionen in Europa also negativ. Dies liegt am eher bankbasierten volkswirtschaftlichen Finanzierungsmodell, in Abgrenzung zum eher kapitalmarktbasierten angelsächsischen System. In toto wirkt die Geldpolitik damit aktuell restriktiv.
Die EZB beginnt in diesem Sommer mit ihrer Strategieüberprüfung. Welche Anpassungen würden Sie sich wünschen?
Ich erlaube mir, damit anzufangen, was ich mir nicht wünsche: Ich wünsche mir definitiv keine Änderungen in Bezug auf das klassische Notenbankmandat. Positiv gewendet: Das im Wesentlichen eindimensionale Mandat der Erzielung von Preisniveaustabilität sollte bestätigt und dabei die Zwei-Prozent-Marke nicht angefasst werden. Wünschenswert wäre zudem eine stärkere Berücksichtigung von Finanzzyklen sowie die Inklusion von Vermögenspreisen in die Inflationsdefinition. Dies ist quantitativ sicherlich schwierig, qualitativ ist dies allerdings möglich über eine stärkere Beachtung von Geldmengen, Krediten und Liquidität. Eine Zweisäulenstrategie, wie sie die Deutsche Bundesbank und die junge EZB praktiziert haben, ist eigentlich zeitlos modern. Im Rahmen der Betrachtungen des sogenannten Operational Frameworks sollte zudem weiterhin die Maxime sein, die Überschussliquidität respektive die Größe der Zentralbankbilanz langsam aber nachhaltig zurückzuführen.
Das Interview führte Martin Pirkl.
Die Antworten der anderen Befragten:
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Silke Tober, Leiterin des Referats Makroökonomische Grundlagenforschung und Geldpolitik des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung: „Die Risiken für die Finanzmarktstabilität sind hoch“
Alexander Krüger, Chefökonom der Hauck Aufhäuser Lampe Privatbank: „Die Inflationsrisiken lauern von allen Seiten“